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"Salam Gaza, dies ist mein Abschied."

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Portrait von Dr. Mughaisib

Dr. Mohamed Abu Mughaisib

Ich bin Mediziner mit über 24 Jahren Erfahrung in den Bereichen Allgemeinmedizin, öffentliche Gesundheit und psychische Gesundheit. Derzeit arbeite ich als stellvertretender medizinischer Koordinator im Gazastreifen.

11. - 18.09.2025

Heute bin ich nach 712 Tagen aus Gaza geflohen.

Ich durfte nichts mitnehmen, außer meinem Telefon und den Kleidern, die ich trug. 

712 Tage lang hörte der Horror nie auf. Nacht für Nacht dieselbe Angst. Tag für Tag derselbe Verlust.
Ich hatte ein Zuhause. Ich wurde daraus vertrieben. Ich hatte eine Familie. Die Entfernung hat uns auseinandergerissen. Ich hatte Freunde, die mir zur Seite standen. Ich lasse sie zurück, nicht weil ich will, sondern weil ich muss. Nur ein paar Fotos sind geblieben, keine kleinen Dinge, die ich festhalten kann. 

Die Spuren unseres Lebens sind ausgelöscht worden. Dennoch ist Gaza in meinem Herzen, jede Straße, jede Stimme und alles, was ich verloren habe. 

Es wird keine Rückkehr geben

Die gesamte Bevölkerung von Gaza-Stadt wurde aufgefordert, in den Süden nach al-Mawasi, und Chan Junis zu ziehen. Logistisch, physisch und sogar psychisch unmöglich. Keine Transportmittel, keine sicheren Durchgänge, keine Unterkünfte, kein Platz. Das ist keine Evakuierung, sondern eine Aufforderung zu sterben. Die Menschen in Gaza-Stadt wurden dazu verurteilt, auf ihren Tod zu warten.

Die Stadt fühlt sich heute Abend an wie das Ende der Welt: Ununterbrochene Luftangriffe, lauter, näher und heftiger als alles, was wir je erlebt haben. Familien werden auf die Straße getrieben und rennen in alle Richtungen. Mütter halten ihre Kinder an der Hand und tragen sie auf dem Rücken. Alte Männer stolpern dahin mit nichts als den Kleidern, die sie am Leib tragen.

Die Szene wirkt wie etwas aus einem Film, den ich einmal gesehen habe, in dem Außerirdische einfallen und die Stadt unter dem Beschuss zusammenbricht. Aber hier ist es keine Fiktion, die Bomben sind real, die Angst ist real und die Vertreibung ist real.

Die Küstenstraße nach Norden und Süden ist mit Lastwagen und Transportfahrzeugen überflutet, die Wellen der Vertreibung sind diesmal weitaus größer als beim ersten Mal, und tief im Inneren weiß jeder, dass dies nicht nur vorübergehend ist.

Gaza ist vorbei.

Die Straßen sind voller Trauer. Und es geht weiter, ohne Ende, ohne Pause und ohne Gnade. Wir leben in einem Albtraum.

Sprecht mit uns und über uns, während wir leben, nicht erst wenn wir gestorben sind.

Jeden Abend sehe ich, wie Expert*innen die Lage im Gazastreifen analysieren, Pfeile auf Karten zeichnen und „Gefechte“ und „Taktiken“ erklären. Sie reden, als würden sie unser Leben kennen, aber ihre Worte haben hier keine Bedeutung. Ihre Karten halten keine Bomben auf, ihre Theorien retten keine Kinder.

Anstelle von leeren Analysen solltet ihr uns sagen, wie wir überleben können. Was soll ich tun, wenn ich unter Trümmern begraben aufwache? Wenn Brandbomben fallen, soll ich Wasser verwenden oder verschlimmert das nur die Flammen? Wo kann ich meine Kinder in einem Zelt unterbringen, damit sie nicht von Granatsplittern getroffen werden? Wenn das Zelt selbst durch eine Explosion zerfetzt wird, wie soll dann jemand unsere Überreste finden?

Ich weiß hier sehr genau, wie ich sterben könnte, habe ich nicht auch das Recht zu wissen, wie ich leben kann? 

Salam Gaza

Ich trage eine Narbe, die so groß ist, dass ich bezweifle, dass sie jemals heilen wird. Ich trage auch Erinnerungen und Zeugnisse mit mir. Ich fühle mich verpflichtet, der Welt zu erzählen, was hier geschehen ist. 

Ich gehe mit gemischten Gefühlen: Traurigkeit über das, was mir genommen wurde. Ein seltsames, kleines Glück, überlebt und die Möglichkeit zu haben, Zeugnis abzulegen. 

Wenn Sie unseren Schmerz sehen und handeln können, tun Sie es. 
Wenn Sie sprechen können, sprechen Sie. 

Auf Wiedersehen, Gaza. Du wirst immer bei mir sein.

 

09.Oktober 2025: Anmerkung der Redaktion

Nachdem Dr. Abu Mughaisib in den vergangenen zwei Jahren ununterbrochen in Krankenhäusern im Gazastreifen gearbeitet hatte, wurde er Mitte September zusammen mit einer Gruppe von Stipendiaten nach Irland evakuiert. Als er den Gazastreifen verließ wurde ihm gesagt, es sei strengstens verboten, Sand oder Erde mitzunehmen. Und er ist überzeugt, dass dies einen Grund hat: „Damit es keinen Beweis dafür gibt, dass du aus Gaza kommst. Damit du keine Verbindungen zu Gaza hast. Nichts, woran du dich festhalten könntest."

Die Entscheidung fiel mir sehr schwer. Ich bin zwar körperlich hier, aber mein Herz und meine Seele sind in Gaza. Es ist sehr seltsam, Menschen zu sehen, die ein normales Leben führen, und es wird Zeit brauchen, sich daran zu gewöhnen. Ich bin froh, dass ich überlebt habe. Aber ich bin traurig, dass ich meine Kollegen und mein Volk zurückgelassen habe. Natürlich bin ich froh, dass ich nicht mehr dort bin. Aber ich kann mich nicht über dieses Glück freuen. Wie kann ich essen, wenn ich doch weiß, dass meine Kolleg*innen leiden.

Dr. Abu Mughaisib