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Libyen: Die Schicksale lassen mich nicht mehr los

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Portrait: Marie von Manteuffel

Marie von Manteuffel

Ich bin Expertin für Flucht und Migration und arbeite in der politischen Abteilung von Ärzte ohne Grenzen. Zusätzlich zu meiner Tätigkeit in Berlin war ich als Humanitarian Affairs Officer in Libyen im Einsatz.

Ich war in Libyen oft traurig und wütend – erlebte aber auch glückliche Momente.  

Woran denken Sie, wenn Sie Libyen hören? 

Vielleicht denken Sie an Muammar al-Gaddafi und reiche Ölvorkommen? An den Arabischen Frühling? Nach meinem Einsatz verbinde ich mit Libyen so viel mehr – vor allem die Geschichten von Menschen. Ein paar davon möchte ich Ihnen in diesem Blogbeitrag erzählen. Denn erst über die persönlichen Schicksale der Menschen lässt sich dieses Land verstehen. 

Entführung, Erpressung, Entrechtung 

In Libyen schwelen seit dem Sturz Gaddafis vor elf Jahren bis heute Konflikte zwischen bewaffneten Gruppen und Milizen. Waffengewalt als politisches Mittel ist allgegenwärtig. Dennoch ist Libyen ein Land, in das es nach wie vor sehr viele Menschen aus anderen afrikanischen Ländern zieht. Schätzungsweise 600.000 bis eine Million Menschen leben dort, um Arbeit zu finden. Libyen hat noch immer den Ruf eines eher reichen Landes dank seiner Ölvorkommen. 

Doch was Arbeitsmigrant*innen in Libyen erleben, ist schrecklich – und dieses Wort kann das Grauen nur dürftig beschreiben.

Bei unserer Arbeit in Internierungslagern habe ich Menschen getroffen, die  mir  von Entführung, Erpressung, Verkauf von Menschen als Ware, Hunger, Folter und völliger Entrechtung erzählt haben.  

Ich denke zum Beispiel an einen 13-jährigen Jungen, den ich in einem Internierungslager in Tripolis kennenlernte: Moses* stammt aus Somalia. Er war noch ein Kind, aber er wirkte auf mich unglaublich reif. In seiner Heimat wurde er in der Schule angesprochen. „Du kannst in Libyen arbeiten“, sagten die Männer zu ihm. „Das Land ist reich. Du bist dann der Held deiner Familie und kannst ihnen Geld nach Hause schicken.“ 

Moses bat mich um Hilfe - für andere 

Moses ging mit den Männern mit. In Libyen wurde er von den Menschenhändlern festgenommen und gefoltert. Seine Familie wurde erpresst, damit er freikäme. Schließlich konnte der Junge fliehen, wurde aber gemeinsam mit seinen Freunden nachts in ihrer Wohnung aufgesucht und verhaftet und diesmal in ein staatliches Internierungslager in Tripolis gebracht. Dort traf ich ihn.  

Aber er sorgte sich nicht um sich. Nein, dieser 13-Jährige bat mich, dass ich etwas für die Frauen und kleinen Kinder tun solle. Wenn es für ihn schon schlimm sei, wie sollten erst sie das Lager überstehen, sagte Moses. 

Wie kann dieses Grauen und diese Ungerechtigkeit sein, fragte ich mich immer wieder.  

Es half mir, die Hintergründe zu verstehen: Libyen hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet. Schlimmer noch, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen hat dort kein offizielles Mandat und darf somit kaum arbeiten. Dabei ist es normalerweise dessen Aufgabe, das Nötigste bereitzustellen: Unterkünfte, Wasser, Nahrung, Bildung für Kinder. 

In Libyen ist es jedoch so, dass Geflüchtete nicht als solche anerkannt werden, sondern als illegale Einwanderer und daher per Gesetz als Straftäter*innen gelten. Deshalb gibt es diese offiziellen Internierungslager. Es ist eine staatliche Aufgabe, Gefängnisse zu betreiben. Die Betreiber der Lager erhalten also Geld vom Staat, der wiederum auch Geld von der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten erhält. Das klagen wir immer wieder an! Wie kann es sein, dass Europa dieses System stützt? 

Keine Betten, kaum Toiletten 

Den Betreiber*innen der Lager geht es um Profit. Die Menschen dort sind eine Einnahmequelle: Sie zahlen für ihre Freilassung, oft werden dafür die Familien erpresst, um an das Geld zu gelangen. Und Menschen werden als Arbeitskraft verkauft.  

Zu essen gibt es in den Lagern viel zu wenig, es reicht gerade zum Überleben. Immer wieder treffen wir auf mangelernährte Insass*innen. In den Lagern herrschen katastrophale Verhältnisse: keine Betten, viel zu wenige Toiletten oder Waschgelegenheiten, die noch dazu meistens völlig verdreckt sind. 

Das Leid der Menschen mit eigenen Augen zu sehen, schmerzte mich sehr. Ärzte ohne Grenzen bietet immerhin eine medizinische Grundversorgung und psychosoziale Hilfe an. 

In meiner Rolle als Referentin für humanitäre Angelegenheiten besuchte ich mehrmals in der Woche die Lager und sprach mit den Menschen. Wir versuchten, Verbesserungen zu erwirken. Zum Beispiel forderten wir die Lagerleitung eines besonders großen Lagers auf, für die schwangeren und stillenden Frauen einen geschützten Raum zu schaffen, in dem sie etwas ungestörter mit ihren Säuglingen sein konnten. Der bereitgestellte Raum entsprach sicher nicht unseren Wunschvorstellungen, aber es war trotzdem ein deutlicher Schritt in die richtige Richtung. 

Die katastrophalen Bedingungen machen die Menschen krank.  

Wir behandelten Hautkrankheiten wie Krätze, Durchfälle, Atemwegsinfekte durch kalte, ungeschützte Nächte und auch langwierig zu behandelnde Infektionskrankheiten wie Tuberkulose. 

Viele leiden an Tuberkulose 

Ich stehe noch in Kontakt mit meinen Kolleg*innen in Libyen. Kürzlich berichtete mir eine von ihnen, die Ärztin Julia von Hake, von Amanuel D.* aus Äthiopien, den sie und ihr Team in einem der Internierungslager untersuchten: Der 27 Jahre alte Mann wog nur noch 42 Kilogramm. Er hatte immer wieder Fieber und Husten. Beim Abhören fiel auf, dass auf der linken Seite seiner Lunge keine Atemgeräusche zu hören waren. Die Verdachtsdiagnose Lungentuberkulose wurde bei einer Untersuchung im Krankenhaus bestätigt. Meine Kolleg*innen konnten mit der Lagerleitung verhandeln, dass Amanuel D. zur Therapie ins Krankenhaus verlegt wurde. Das ist wichtig, damit die anderen Gefangenen nicht angesteckt werden und er seine Tabletten regelmäßig einnehmen kann. 

Es bleibt zu hoffen, dass dies rechtzeitig gelungen ist, da die Gefahr einer Ansteckung in solchen beengten Verhältnissen wie in den Zellen der Internierungslager besonders hoch ist. 

Den jungen Mann werden wir nun sechs Monate behandeln, gemeinsam mit den Kolleg*innen des libyschen Gesundheitsministeriums in einem staatlichen Krankenhaus. Unbehandelt verläuft Tuberkulose oft tödlich. Nun erhält Amanuel eine wirksame Kombination aus verschiedenen Antibiotika. Julia hofft, dass er bald wieder gesund ist und dass er dann nicht wieder ins Internierungslager zurück muss. 

Sind wir Teil des Systems? 

Immer wieder fragen wir uns: Stützen nicht auch wir das System, indem wir mit unserer medizinischen Versorgung Teil des Ganzen sind? Wie gehen wir damit um, in den allermeisten Fällen lediglich basismedizinische Versorgung anbieten zu können, wenn doch eigentlich klar ist, dass alle diese Menschen aus den Internierungslagern entlassen und an einen sicheren Ort gebracht werden müssten? 

Der Gedanke schmerzt und doch zeigt sich gleichzeitig immer wieder, dass unsere Arbeit für die Menschen überlebenswichtig ist. Nichts zu tun, ist auch keine Alternative. 

Im Prinzip ist unsere Hilfe in Libyen ähnlich wie in anderen Geflüchtetenlagern weltweit. Beispielsweise leben auch in Bangladesch rund eine Million Rohingya in Camps, in denen katastrophale Bedingungen herrschen, die kein Mensch erleben sollte. Doch in Libyen sind die Betreiber der Camps nicht die Vereinten Nationen, sondern zum Teil staatliche Stellen, zum Teil kriminelle Banden, die Menschen ausbeuten, foltern und erpressen. Mehrfach haben wir öffentlichkeitswirksam gegen die Situation in den Lagern protestiert. 

In Berlin spreche ich mit deutschen Politiker*innen über die Lage – auch über ihren Anteil daran. 

In Libyen leben auch Geflüchtete und Migrant*innen, die über das Mittelmeer nach Europa wollen. Doch ich traf genauso viele Menschen, die gar nicht aus Afrika wegwollen. Sie wollen nahe bei ihren Familien sein. Einmal antwortete mir ein Mann auf die Frage, ob er nach Europa wolle oder zurück in sein Heimatland: „Nein, ich will zurück in meine Auto-Werkstatt hier in Libyen, in der ich seit fünf Jahren arbeite.“ Er war wie so viele einfach auf der Straße aufgegriffen und ohne Prozess eingesperrt worden, weil er als Migrant rechtelos ist. 

Meine Lichtblicke 

Vieles in Libyen hat mich frustriert und macht mich bis heute wütend. Doch es gab auch Lichtblicke. Eines Tages trafen unsere Teams in einem Lager einen Mann. Er wollte seit Tagen nicht essen, saß teilnahmslos in seiner Zelle. Dann erzählte uns sein Zellennachbar den Grund: Der Mann war bei seiner Inhaftierung von seiner Tochter getrennt worden. Deshalb war er in tiefer Trauer. 

Durch einen Zufall fanden wir heraus, dass die Tochter im selben Internierungslager in einem anderen Trakt gefangen gehalten wurde. Wir sprachen mit der Lagerleitung und kurz darauf durften sich Vater und Tochter auf dem Hof sehen. 

Es war ein so wundervoller Moment, dass unser ganzes Team vor Glück weinte. 

Leider mussten die beiden weiterhin in unterschiedlichen Zellen bleiben, aber immerhin durften sie sich regelmäßig im Hof sehen. 

Ein Gefühl von Menschlichkeit und Würde 

Wir arbeiten in Libyen auch außerhalb der Internierungslager. Denn viele Geflüchtete verstecken sich in den Straßen. Um sie zu erreichen, arbeiten wir mit mobilen Teams. Es tut gut zu wissen, dass diese Menschen immerhin die nötigste Hilfe bekommen, wenn sie krank werden. 

Insgesamt arbeitete ich sechs Monate in Libyen. Was mir Kraft gab trotz der furchtbaren Schicksale, war mich mit Sport abzulenken. Und ich legte im Hof unseres Wohnhauses mit der Hilfe meiner libyschen Kolleg*innen einen kleinen Garten an. Wir pflanzten dort Jasmin, Pinienbäumchen und einen Zitronenbaum. Es war schön, diesen kleinen, blühenden Rückzugsort zu haben. 

Bei meinem letzten Besuch im Lager kamen viele Patient*innen auf mich zu, um sich zu verabschieden. Ein Mann sagte zu mir, unsere Gespräche hätten ihm immer das Gefühl von Würde und Menschlichkeit gegeben. Das hat mich sehr berührt und das nehme ich für immer mit. Wir können selbst in den ausweglosesten Situationen etwas bewegen, wenn wir unsere Menschlichkeit nicht verlieren. 

* Wir haben die Namen zum Schutz der Personen geändert.