Ich bin Anfang Juli aus dem Gazastreifen zurückgekehrt, insgesamt war ich knapp neun Wochen dort. Ich habe Bilder mitgenommen, die ich nie vergessen werde: eine Bombe, die nur 150 Meter von unserem Haus entfernt einschlägt, der Strand übersät mit Zelten Vertriebener – und das kleine Mädchen, das ich beatmete, das denselben Schlafanzug wie meine Nichte trägt.
Als ich ankam, brachte ich eine große Tasche voll mit Essen und Süßigkeiten mit. Mir war bewusst, es würde mehr sein als eine nette Geste ans Team. Nahrung wird dringend gebraucht. Doch wie dringend, hätte ich anfangs nicht gedacht. In der Regel bekam unser Team nur eine Mahlzeit am Tag. Eine Portion Reis oder Nudeln mussten ausreichen, um stundenlang einen Job zu schaffen, der extrem herausfordernd ist. Ich selbst war nur neun Wochen im Krankenhaus im Einsatz, aber meine palästinensischen Kolleg*innen ertragen diese Situation seit Monaten. Genauso wie unsere Patient*innen.
Ich schreibe diesen Bericht für sie – für all die Menschen, denen ich im Gazastreifen begegnet bin. Das habe ich ihnen versprochen. Das bin ich ihnen schuldig.
Wo fange ich an? Vielleicht am besten bei unserem Krankenhaus.
Wir arbeiteten in Zelten und Containern, in denen das Krankenhaus im Ort Deir al-Balah notdürftig errichtet worden waren. Es war darin oft heiß und sehr voll. Wir waren recht weit von den Wohnvierteln der Stadt entfernt – in der Nähe des Strands, was uns und den Patient*innen Schutz vor Bombeneinschlägen bieten sollte. Anfangs konnte ich den Strand von der Klinik aus noch sehen. Doch schon bald war er so voll mit den Zelten der Menschen, deren Häuser zerbombt waren, dass ich keinen Zentimeter Sand mehr sah. Und somit wuchs die Bevölkerungszahl in unserer unmittelbaren Nähe.
Die Klinik selbst ist auch stark gewachsen. Anfangs hatten wir 50 Betten. Am Ende meines Einsatzes waren es 110, mehr als doppelt so viele. Jeden Morgen fuhr ich mit unserem kleinen Team von internationalen Kolleg*innen dorthin. Unser Fahrer holte uns ab. Wir wohnten in einem massiven Gebäude in der Stadt. In Deir al-Balah sind noch relativ viele Gebäude unversehrt, doch auf unserem Weg sah ich auch immer wieder in Straßenzüge hinein, die einer Mondlandschaft glichen. Überall lag Schutt. Müllabfuhr, Toiletten, Brunnen – all das gibt es größtenteils nicht mehr. Der Geruch von Abwasser war fast überall wahrnehmbar.
Nach unserer Ankunft in der Klinik begannen wir den Arbeitstag mit der Übergabe. Wie sah der OP-Plan für den Tag aus? Welche Patient*innen in kritischem Zustand benötigten besondere Aufmerksamkeit? Zum Beispiel ein 15-jähriges Mädchen, das bei einem Bombenangriff schwere Verletzungen an beiden Armen erlitten hatte. Wir operierten sie mehrfach. Später konnte sie einen Arm wieder gut bewegen. Der andere Arm war noch bis zu meiner Abreise durch einen Fixateur, einem Metallgestänge zum Ruhigstellen des Bruches, stark eingeschränkt. Zudem waren Nerven beschädigt und es war fraglich, ob sie den Arm je wieder normal einsetzen kann. Doch es ging ihr insgesamt schon deutlich besser. Bei dem Bombenangriff hatte sie beide Eltern verloren. Unser psychologisches Team unterstützte sie bei der Trauerarbeit und hatte Kontakt zu ihrer Tante hergestellt, die sich seitdem rührend um das Mädchen kümmerte.
Ein anderer Patient ist der Bruder eines unserer palästinensischen Ärzte. Er ist 19 Jahre alt und hat schwere Kopfverletzungen bei einem Raketeneinschlag erlitten. Er war kurzzeitig im Koma, konnte nach dem Aufwachen eine Körperhälfte nicht mehr bewegen. Seit kurzem war er zumindest so stabil, dass wir ihn in ein Rehazentrum verlegen konnten. Dort bekam er täglich Physiotherapie und Wundpflege. Mein Kollege erzählte mir, dass er mit Unterstützung wieder gehen konnte und auch seine Sprache kam langsam zurück.
Ich habe die größte Hochachtung vor meinen palästinensischen Kolleg*innen
Was meine palästinensischen Kolleg*innen und ihre Familien durchmachen und was sie dennoch leisten, ist für mich unvorstellbar.
Jeden Tag kommen sie zur Arbeit, um anderen zu helfen, zu operieren, für Strom im Krankenhaus zu sorgen, Wunden zu verbinden oder Patient*innen zuzuhören bei psychologischen Beratungsgesprächen. Obwohl die Belastung für sie selbst so unendlich groß ist. Fast alle haben Angehörige verloren. Ihre Häuser wurden zerstört. Der Großteil von ihnen schläft in Zelten, in denen es stickig und heiß ist. Zusammen mit der gesamten Familie, mit kleinen Kindern, die nachts weinen und nicht in den Schlaf finden, die immer wieder hochschrecken, wenn die Kampfjets wieder einmal dicht über die Zeltdächer hinwegfegen und Angst verbreiten.
Eines Tages wurde unser Pflegedienstleiter in einem Krankenwagen verletzt eingeliefert. Er war vollkommen panisch. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass er wissen wollte, ob seine Kinder ebenfalls eingeliefert worden waren. In der Nacht war sein Haus zerbombt worden. Er musste ohnmächtig gewesen sein und als er wach wurde, waren seine Kinder weg. Wir konnten sie zum Glück später ausfindig machen. Doch bei diesem Vorfall starb seine Schwägerin, und seine Mutter wurde schwer verletzt. Sie war, während die Rakete in ihr Haus einschlug, zu ihrem Enkel, dem Baby meines Kollegen, geeilt. Dann war sie selbst aus dem Haus geschleudert worden und hatte Brüche und Wunden davongetragen. Als man sie fand, hielt sie das Baby schützend in ihrem Arm, dem nichts geschehen war.
Wenn ich daran zurückdenke, spüre ich einen Stich, denn ich konnte dem Grauen im Gazastreifen den Rücken kehren – während meine palästinensischen Kolleg*innen dies nicht können. Ich bin bis heute in Kontakt mit einigen von ihnen und in großer Sorge um sie. Beinahe täglich werden auch Kliniken angegriffen. Das ist ein klarer Verstoß gegen das internationale Völkerrecht, und Ärzte ohne Grenzen fordert von Israel öffentlich, dass das aufhört.
Versorgung von Patient*innen unter schwierigsten Bedigungen
Die gesamte Bevölkerung leidet Hunger. Mehr als 90 Prozent der Menschen wurden vertrieben, viele von ihnen mehrfach. Ich habe ja bereits über die Lebensbedingungen in engen, überfüllten Zelten gesprochen. Die Menschen haben dort keine sicheren Herde zum Kochen mehr, selbst Gaskocher sind Mangelware. Die meisten kochen über offenem Feuer, das sie mit Holz oder Kohle entfachen. Ich erinnere mich noch wie heute an ein 7-jähriges Mädchen, das an einem solchen Feuer schwere Verbrennungen erlitt. Das Kind schwebte in Lebensgefahr, als es zu uns in die Zeltklinik gebracht wurde, und schrie vor Schmerzen.
Wir versorgten sofort seine Wunden. An den Folgetagen musste es immer wieder schmerzhafte Verbandswechsel über sich ergehen lassen. Leider heilen Brandwunden schlechter, wenn ein Körper akut mangelernährt ist. Denn Proteine, Fette und Vitamine sind wichtig für die Heilung. Deshalb mussten wir eine schwierige Entscheidung treffen: Wir erhöhten die Ration therapeutischer Fertignahrung für das Mädchen – ebenso wie für andere Patient*innen mit Brandwunden – obwohl unsere Vorräte gering waren und alle hungerten.
Schließlich konnten wir das Mädchen in ein anderes Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen in der Nähe verlegen, das speziell auf Brandwunden ausgerichtet ist. Dort erhält sie die beste Therapie, die unter den Bedingungen aktuell möglich ist. Zum Beispiel kann das Team mit einem 3D-Drucker spezielle Masken für ihr verbranntes Gesicht herstellen. So kann es besser heilen, ähnlich wie unter einem Verband. Auch für den wunden Körper haben sie dort Kompressionsanzüge.
Es waren solche Lichtblicke, die mir Kraft gaben, weiterzumachen. Ich hörte von anderen Kliniken, in denen sie Operationen ohne Narkosemittel durchführen mussten. Wie unvorstellbar! Doch auch wir mussten immer wieder an Schmerzmitteln sparen – bei Patient*innen, die normalerweise dringend Pausen vom Schmerz gebraucht hätten. Wir mussten Medikamente verabreichen, die weniger gut wirken, weil die besseren Alternativen verbraucht waren.
Als Notfallpflegerin dies erleben zu müssen, ist grausam. Wir tun, was wir können. Unter diesen Bedingungen zu arbeiten, ist hart – unter ihnen zu genesen, ist kaum möglich. Die seelischen Traumata kommen zu den körperlichen Schmerzen hinzu.
Die humanitäre Katastrophe in Gaza ist menschgemacht
Dabei müsste das nicht sein, wenn die israelische Regierung mehr Hilfskonvois durchließe. Dies ist eine politisch gewollte und geduldete Katastrophe. Für Ärzte ohne Grenzen ist klar, die Angriffe und Blockaden durch das israelische Militär gehen zu weit. Die rote Linie ist bei Weitem überschritten. Es muss umgehend etwas passieren – das Grauen und Sterben im Gazastreifen muss ein Ende haben. Wir fordern deshalb unter anderem die deutsche Bundesregierung auf, die ihr zur Verfügung stehenden wirtschaftlichen, politischen und diplomatischen Möglichkeiten zu nutzen, um die Situation im Gazastreifen und im Westjordanland zu verbessern und die Gewalt zu beenden.
Zu der Gewalt gehören leider auch die Lebensmittelverteilungen durch die israelisch-amerikanische „Gaza Humanitarian Foundation“. Die Wege zu den Verteilstellen sind weit, was für die geschwächten Menschen eine zusätzliche Belastung ist. Jeden Tag behandeln unsere Teams Menschen, die bei den Verteilungen verletzt werden – für viele endet es sogar tödlich. Kommen die Menschen früh zu den Zentren und nähern sich ihnen, wird auf sie geschossen. Kommen sie zu spät, dürfen sie nicht mehr dort sein, und es wird auf sie geschossen. Wenn eine Verteilung bevorstand, wussten wir, dass wir uns in der Notaufnahme auf eine Situation mit vielen Verwundeten zeitgleich einstellen mussten. Wie kann es sein, dass man bei einer Essensverteilung, einer humanitären Hilfe, sein Leben riskiert? Es fühlt sich absurd an, das betonen zu müssen, aber humanitäre Hilfe darf niemals für politische oder militärische Ziele eingesetzt werden.
Bis heute habe ich die panischen Stimmen im Ohr, wenn meine palästinensischen Kolleg*innen mit ihren Kindern telefonierten und sie anbettelten, nicht zu den Verteilungen zu gehen. Hunger oder tödliche Gefahr – das war die Wahl.
Entsprechend nahmen auch wir, je länger mein Einsatz dauerte, immer mehr Patient*innen auf, die akut mangelernährt waren – wobei niemand allein deshalb kam. In unserem Feldkrankenhaus versorgten wir vor allem offene Brüche, Wunden, Verbrennungen und Amputationsverletzungen. Das Leben im Gazastreifen ist zum Albtraum geworden.
Hilfe in größter Not
Umso wichtiger sind für mich diese Zahlen, die wir gemeinsam mit unseren Unterstützer*innen dem Leid entgegenstellen. Ärzte ohne Grenzen hat seit Kriegsbeginn:
- mehr als eine Million ambulante medizinische Konsultationen geleistet
- mehr als 20.000 chirurgische Eingriffe durchgeführt
- knapp 270.000 Menschen in Notaufnahmen versorgt
- mehr als 46.000 Patient*innen stationär behandelt
- rund 13.000 Geburten begleitet
- mehr als 55.000 psychosoziale Einzelberatungen geleistet
Meine Kolleg*innen, unsere Patient*innen und ihre Angehörigen sagten mir immer wieder, wie dankbar sie sind, dass wir da sind und helfen. Diesen Dank gebe ich gerne an alle weiter, die unsere Arbeit unterstützen und möglich machen. Ihre Spenden machen unsere Arbeit überhaupt erst möglich. Ob im Gazastreifen, im Sudan, in Haiti oder in Somalia – Ihre Unterstützung rettet Leben, wo Menschen in größter Not sind. Danke!