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Gazastreifen: Jeder Moment der Zuversicht zählt

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Portrait von Katrin Glatz Brubakk

Katrin Glatz Brubakk

Ich bin Trauma-Therapeutin für Kinder mit Gewalt- und Missbrauchserfahrungen. Mit Ärzte ohne Grenzen war ich bereits in Griechenland, Ägypten, der Türkei, den Palästinensischen Gebieten und auf dem Mittelmeer im Einsatz.

Für mich ist das Schwerste an meiner Arbeit im Gazastreifen, dass meine Möglichkeiten zu helfen begrenzt sind. Ich kann den Kindern keine Trauma- und Trauertherapien anbieten; ich kann ihnen nicht einmal sagen, dass sie nun sicher sind. Eines aber kann ich mit meinem Team aus Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen und Berater*innen tun: Wir können die Kinder mittels psychologischer Ersthilfe so weit stützen, dass sie im Hier und Jetzt durchhalten können.

Traumatisierte Menschen benötigen Stabilität, Sicherheit und Vorausschaubarkeit, einen geschützten Raum, verlässliche soziale Strukturen. Die Menschen im Gazastreifen haben nichts von alledem.

Ihnen wurde genommen, was wir alle brauchen, um seelisch gesund zu leben. Besonders für die Kinder birgt dies immense Gefahren. Sind sie über längere Zeit extremer Anspannung und Angst ausgesetzt, droht dieser Zustand chronisch zu werden – mit negativen Auswirkungen auf die Entwicklung ihres Gehirns: Die Amygdala, das Hirnareal, das für starke emotionale Eindrücke verantwortlich ist, wächst immer weiter an; zugleich entwickelt sich der Hippocampus, der Teil des Gehirns, der für rationales Denken und Lernen bedeutend ist, nicht so, wie er sollte.

Ziel unserer psychologischen Ersthilfe in Kriegsgebieten ist es daher, den Kindern Pausen zu verschaffen, in denen sie frei von Angst sind und durchatmen können. Jeder einzelne dieser Momente zählt, um einer Chronifizierung der Angst vorzubeugen. Diese Gewissheit lässt mich im Januar und Februar in das Nasser-Krankenhaus zurückkehren. Kurz nach meiner Anreise kommt es vorübergehend zur Waffenruhe. Ich bin froh zu beobachten, dass der Stress ein Stück weit von den Kindern abfällt und die Panikattacken abnehmen. Viele zeigen nun jedoch Symptome einer generalisierten Angststörung. Sie sind ständig nervös und beunruhigt, auch Alltägliches verängstigt sie.

Nach vier Monaten das erste Lächeln

Als ich der kleinen Maria zum ersten Mal begegne, fürchtet sie sich so sehr vor mir und meiner weißen Ärzte-ohne-Grenzen-Weste, dass sie anfängt zu brüllen. Alles in unserem Krankenhaus birgt für sie eine Gefahr, denn sie verbindet die Klinik mit den Schmerzen in ihrem Körper und dem Bombenangriff, der sie schwer verwundet hat.

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Mädchen im Bett bläst Seifenblasen, Psychologin kniet
© MSF
Katrin Glatz Brubakk verschafft der dreijährigen Maria spielerisch Pausen von ihrer Angst.

Mehrmals am Tag öffne ich die Tür zu ihrem Zimmer, schaue hinein, sage freundlich ‚Hallo‘. Nach einigen Tagen dann bleibt Maria bei meinem Anblick zum ersten Mal ruhig. Erst jetzt trete ich schrittweise und in dem Tempo, das sie zulässt, an ihr Bett heran. Schließlich kann ich mich zu ihr und ihrer Mutter setzen. Ich hole Seifenblasen aus meiner Tasche, die für mich ein wirklich magisches Werkzeug sind. Maria reagiert zunächst verängstigt. Doch dann traut sie sich und greift nach dem Behälter. Als sie pustet, vertieft dies ihre Atmung, und ihre Aufmerksamkeit richtet sich auf etwas Schönes, Unbekümmertes. Marias Nervensystem entspannt sich; einen Augenblick lang kann sie Freude empfinden und die Angst loslassen. In diesem Moment lächelt das Mädchen – es sei das erste Mal seit vier Monaten, erzählt mir die Mutter. Es ist ein Augenblick, der mein ganzes Herz erfüllt.

In den kommenden Wochen werden Maria und ich uns immer vertrauter. Während unseres Zusammenseins erlebt die Mutter, was dem Mädchen guttut und ihr gegen die Angst hilft. Sie wird zunehmend sicherer im Umgang mit den Traumata ihrer Tochter. Dadurch kann auch die Mutter besser entspannen und besser für Maria da sein. Den Angehörigen grundlegendes psychologisches Wissen zu vermitteln ist auch Ziel der Gruppensitzungen, die ich mit meinem Team im Nasser-Krankenhaus jede Woche anbiete. Wir erklären etwa, dass es typische Reaktionen auf traumatische Erlebnisse sind, wenn Kinder wieder einnässen, sich die Haare ausreißen oder aufhören zu sprechen.

Als die israelische Regierung im März die Waffenruhe bricht und den Gazastreifen erneut bombardieren lässt, bin ich bereits wieder zu Hause in Norwegen. Viele Male täglich stehe ich in Kontakt mit meinen palästinensischen Kolleg*innen. Ich bewundere sie sehr, wie sie Tag für Tag in die Klinik kommen, sich mit großer Fürsorge um unsere Patient*innen kümmern und dabei selbst nie wissen, ob sie ihre Kinder lebend wiedersehen werden. Die Waffenruhe hatte ihnen endlich wieder Hoffnung gegeben, trotz all der Verluste und Zerstörung. Jetzt aber ist die Angst zurück. Wieder werden sie zu Evakuierungen aufgefordert. Doch sie seien am Ende ihrer Kräfte, schreiben mir manche, und zu erschöpft für eine weitere Flucht. Ich selbst habe nur einen einzigen Wunsch: dort zu sein und meinen Kolleg*innen und den Kindern im Gazastreifen zur Seite zu stehen – mit meiner Ausbildung, meinen Fähigkeiten und der Erkenntnis, dass ich die Belastung aushalten kann. Deshalb werde ich mit Ärzte ohne Grenzen im August nach Chan Junis zurückkehren. Wenn es unser Krankenhaus bis dahin noch gibt. 

Das Nasser-Krankenhaus wurde am 23. März bei einem Raketenangriff getroffen. Die chirurgische Abteilung wurde schwer beschädigt, zwei Menschen starben. Wir sind weiterhin im Nasser-Krankenhaus im Einsatz und leisten u. a. dort Hilfe.