Gaza: Es muss etwas passieren
Seit fast einem Jahr arbeite ich regelmäßig in Gaza. Bereits im vergangenen Juli war das Ausmaß an Gewalt und Zerstörung dort erschütternd. Die Blockade hindert die Medien daran, die Gräueltaten zu zeigen und führt dazu, dass selbst wir nicht wissen, was uns in Gaza erwartet, bevor wir dort sind. Obwohl ich seit Beginn des Krieges eng mit den Teams dort zusammenarbeite, war ich schockiert, als ich im Juli 2024 erstmals im Gazastreifen ankam.
Die Ankunft in Gaza ist ein Angriff auf die Sinne
Die Bomben sind ohrenbetäubend. Die Drohnen sind hartnäckig und laut. Der Geruch von Abwasser ist fast überall wahrnehmbar.
Es dauert eine Weile, bis man erkennt, ob eine Bombe in der Nähe oder weit entfernt explodiert. Es dauert eine Weile, bis man die Risiken versteht, da dieser Kontext unsere Grenzen des Akzeptablen weit verschoben hat. Es dauert eine Weile, bis sich der Körper daran gewöhnt hat, sich beruhigt und schließlich schlafen kann.
Im Juli 2024 war der größte Teil des Gazastreifens bereits stark zerstört, ähnlich wie einige der am stärksten zerstörten Gebiete, die ich 2014 in Syrien gesehen habe. Er bestand im Wesentlichen aus einem provisorischen Camp neben dem nächsten. Jetzt, 11 Monate später, haben sich die Militäroperationen ausgeweitet, es gibt eine vollständige Belagerung und Blockade des Gazastreifens, was auch die Sicherheit unserer Teams gefährdet.
Wir müssen unsere Stimme erheben
Unsere Teams haben in den vergangenen 20 Monaten Unglaubliches geleistet, um unsere Aktivitäten aufrechtzuerhalten: Für Ärzte ohne Grenzen arbeiten in Gaza 1.043 palästinensische Mitarbeiter*innen und 25 international rekrutierte Mitarbeiter*innen. Unsere Teams arbeiten in sechs Kliniken, zwei Feldlazaretten und zwei Krankenhäusern des Gesundheitsministeriums. Doch diese Aktivitäten sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich noch sagen soll. Es scheint, als sei in den letzten 20 Monaten alles gesagt worden. Internationale Medien und Menschenrechtsorganisationen werden nicht zugelassen, und können daher der Weltgemeinschaft nicht über die Gräueltaten in Gaza berichten. Und humanitäre Helfer*innen wie wir bei Ärzte ohne Grenzen werden ständig angezweifelt und hinterfragt, weil man den Bildern, die wir liefern, und dem, was wir sehen und berichten, einfach nicht glauben will.
Das Argument, dass Israel das Recht habe, sich zu verteidigen, wird als Freibrief für Verbrechen gegen das palästinensische Volk herangezogen. Wir verbringen viel Zeit damit, einzuordnen, ob das, was wir beobachten, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord sind, und wie wir das beweisen können.
Es reicht also nicht aus, zu versuchen, Gesundheitsversorgung bereitzustellen, unsere Teams zu schützen, während einer Blockade Vorräte zu beschaffen oder zu erahnen, was das nächste Angriffsziel sein wird. Wir müssen auch verteidigen, dass das, was wir sehen, real ist. Gleichzeitig müssen wir die Weltgemeinschaft dazu drängen, Stellung zu beziehen, damit Hilfsgüter ins Land gelangen können und die humanitären Kanäle durch die Gaza Humanitarian Foundation nicht untergraben werden.
Wir müssen unsere Stimme erheben. Wir legen also Zeugnis ab, während Lieferungen, Bewegungen und alle humanitären Hilfsmaßnahmen in Gaza eingeschränkt und politisiert werden.
Die Grundlage zivilen Lebens wird systematisch zerstört
Lassen Sie mich erklären, welche Auswirkungen dieser Krieg auf die palästinensische Bevölkerung in Gaza und auf unsere Arbeit hat:
Die Schäden an der Infrastruktur bedeuten, dass der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen eingeschränkt und die Wasserver- und Abwasserentsorgung ein Problem sind.
Evakuierungsbefehle oder vielmehr Vertreibungsbefehle bedeuten, dass die Menschen im Gazastreifen zwischen wenigen Minuten und 24 Stunden Zeit haben, um für eine unbestimmte Zeit an einen unbekannten Ort zu gehen.
Das wiederum bedeutet, dass 665.000 Menschen, also fast ein Drittel der palästinensischen Bevölkerung, seit dem Zusammenbruch des Waffenstillstands im März mindestens einmal vertrieben wurde. Die meisten Menschen haben ihr Zuhause verloren. Jede Woche gehen unsere palästinensischen Kolleg*innen mitten am Tag, um umzuziehen oder nachzusehen, ob es ihrer Familie gut geht.
Die gezielten Angriffe auf Gaza erfolgen aus der Luft, vom Meer und vom Boden aus. Sie dauern den ganzen Tag und Abend über an. Die Geräusche sind brutal, auch wenn sich die Palästinenser*innen daran gewöhnt haben, auch wenn sich die Kinder daran gewöhnt haben. Seit Beginn des Krieges gibt es durchschnittlich 74 Angriffe pro Tag.
Die Angriffe finden in der Nähe von Gebäuden statt, die eigentlich Schutzorte sein sollen, sodass niemand und kein Ort sicher ist. Die Angriffe erfolgen in der Nähe unserer Räumlichkeiten und schränken unsere Bewegungsfreiheit und damit unsere Fähigkeit, Hilfe zu leisten, ein: Bomben, die 150 Meter von unseren Gesundheitseinrichtungen entfernt einschlagen, gehören seit dem Zusammenbruch des Waffenstillstands zum Alltag.
Das bedeutet auch, dass in den letzten zwei Monaten jede Woche mindestens eine*r unserer Kolleg*innen oder eine*r ihrer nahen Verwandten verletzt oder getötet wurde.
Embargo/Belagerung/Blockade: Durch die Blockade erreichen kaum Hilfsgüter den Gazastreifen. Das bedeutet, dass World Central Kitchen seit Anfang Mai nicht mehr in der Lage ist, unsere Patient*innen und Mitarbeiter*innen mit Lebensmitteln zu versorgen. Es bedeutet, dass die gesamte Bevölkerung hungert und wir in unseren Einrichtungen viel mehr Fälle von Mangelernährung sehen; dass unsere palästinensischen Kolleg*innen Brot rationieren müssen und unsere internationalen Mitarbeiter*innen im Einsatz in Gaza nur eine Mahlzeit pro Tag bekommen. Es bedeutet, dass unsere medizinischen Vorräte seit Beginn des Krieges begrenzt sind und wir Vorräte über mehrere Korridore bestellen müssen, für den Fall, dass einer davon geöffnet wird. Es bedeutet, dass Medikamente fast ablaufen, während wir auf ihre Lieferung warten. Es bedeutet, dass wir keine bedarfsgerechte Versorgung anbieten können, wie wir es sonst tun würden.
Es muss etwas passieren, schnell!
Wir sind des Krieges müde - die ständigen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, das Sterben.
Wir sind es müde, immer wieder beweisen zu müssen, wie offensichtlich die Grenzüberschreitungen sind.
Wir sind der Komplizenschaft [der Weltgemeinschaft] müde.
Es ist Zeit, dass Worten Taten folgen.

Jetzt Aufruf an die Bundesregierung unterschreiben!
Gemeinsam können wir den öffentlichen Druck verstärken.