Gaza: “Der Krieg hat uns immer eingeholt”
Wir blieben zunächst in Gaza-Stadt, als die israelische Regierung im Oktober 2023 den Menschen im nördlichen Gazastreifen befahl, in den Süden zu gehen. Wir blieben und zogen in das nächstgelegene Büro von Ärzte ohne Grenzen - viele Mitarbeitende und ihre Familien kamen dort zusammen. Wir fühlten uns dort sicherer als in unseren Häusern, obwohl uns jedes Geräusch von draußen daran erinnerte, dass es keinen wirklich sicheren Ort gab.
Im Laufe der Wochen stürmten israelische Streitkräfte das Al-Schifa-Krankenhaus und Angst breitete sich in der ganzen Stadt aus. Zu diesem Zeitpunkt waren Geschäfte und Bäckereien längst geschlossen. Die Stadt wurde zerstört, und die Menschen, die geblieben waren, hungerten. Wir beschlossen zu fliehen, in der Hoffnung, dass der Süden eine bessere Überlebenschance bieten würde.
Keiner war sicher.
Ärzte ohne Grenzen organisierte einen sicheren Transfer Richtung Süden für die Mitarbeitenden während einer kurzen, von den israelischen Streitkräften gewährten Frist. Wir machten uns in einem Konvoi aus Autos auf den Weg: Humanitäre Helfer*innen und ihre nächsten Angehörigen.
Tausende versuchten damals verzweifelt zu fliehen und auf den Straßen herrschten chaotische Zustände. Die Frist verstrich, bevor wir in den Süden gelangen konnten, und wir mussten nach Gaza-Stadt zurückkehren.
Als unser Konvoi, der deutlich mit dem Logo von Ärzte ohne Grenzen gekennzeichnet war, zum Krankenhaus zurückkehrte, kam es plötzlich zu Schusswechseln. Kugeln zischten durch die Luft, Fenster zerbrachen und Splitter rissen unsere Fahrzeuge auf. Es war Chaos: Alaa Al-Shawa, Notfallpfleger für Ärzte ohne Grenzen, hielt meine Kinder im Arm, als er in den Kopf geschossen wurde.
Die Kinder schrien.
Meine Kinder erinnern sich an diesen Tag, als wäre es gestern gewesen: Die Schüsse kamen aus allen Richtungen, sodass es unmöglich war, ihren Ursprung auszumachen. Die Kugel, die knapp über ihre Köpfe hinwegflog, bevor sie Alaa traf. Der Tod unseres Kollegen und Freundes, den sie so sehr liebten.
Wir waren nah genug an der Klinik, um hineinzustürmen. Wir mussten zusehen, wie Alaa verblutete, während jeder Versuch, ihn zu retten, scheiterte.
Die Kinder schrien. Ihre Schreie erfüllten auch die Luft, als Alaa beerdigt wurde. Wir standen da und konnten es nicht glauben; unser Verstand war nicht in der Lage, zu begreifen, was geschehen war.
Die nächsten Tage waren wir im Krankenhaus gefangen. Wir schliefen an derselben Stelle, an der Alaa unter der Erde lag. Wir konnten nirgendwo anders hin.
Mein ältester Sohn war besonders erschüttert; jede Nacht wachte er weinend auf, verfolgt von dem Bild von Alaas totem Körper und dem, was er gesehen hatte.
Sie lagen dort, wo sie gefallen waren.
Als wir es Ende November 2023 endlich schafften, in den Süden zu gelangen, war die Straße vor uns übersät mit Leichen. Sie lagen dort, wo sie gefallen waren. Es war ein Anblick, den nichts jemals aus unserem Gedächtnis löschen kann.
Schließlich erreichten wir Chan Junis und fanden Zuflucht in den Räumlichkeiten von Ärzte ohne Grenzen. Aber selbst dort holte uns der Krieg wieder ein.
Ein Angriff in der Nähe zerschmetterte die Fenster und erschütterte das Gebäude in seinen Grundfesten. Später traf eine Panzergranate die Einrichtung direkt, obwohl sie deutlich mit der Flagge und dem Logo von Ärzte ohne Grenzen gekennzeichnet war. Bei diesem Angriff wurde die Tochter eines Kollegen getötet.
Nach dem Angriff flohen wir erneut, diesmal nach Rafah, der sogenannten Sicherheitszone damals. Aber selbst dort hörten die Luftangriffe nicht auf. Wenn die Bomben nicht direkt auf Häuser fielen, rissen ihre Splitter dennoch Wände und Unterkünfte ein.
Er ist erst fünf Jahre alt.
Es folgten Monate der Vertreibung, geprägt von unerträglichen Verlusten und unmenschlichen Lebensbedingungen. Die Zeit verschwamm, während wir von einem Ort zum anderen zogen und Tag für Tag ums Überleben kämpften. Gerade als wir dachten, wir hätten das Schlimmste überstanden, brachte der Genozid neuen Terror vor unsere Haustür.
Am 27. Juni 2025 traf ein Luftangriff die Straße neben unserem Haus. Unser jüngster Sohn Omar stand an der Tür, als ein Splitter sein Bein durchschlug. Er ist erst fünf Jahre alt. Und die Monate der Angst und des Hungers hatten ihn geschwächt.
Omar wurde unter unerträglichen Bedingungen mehrfach operiert.
Um uns herum Hunger und steigende Preise für Lebensmittel und Medikamente, die wir uns unter der israelischen Belagerung nicht mehr leisten konnten. Keine Zustände, in denen sich ein Kind von einer Kriegsverletzung erholen kann. Sechs Wochen später war Omar mangelernährt und seine Geschwister waren gefährlich untergewichtig.
Hoffnung in Amman
Zu diesem Zeitpunkt gelang es unseren Kolleg*innen, uns in das Krankenhaus für rekonstruktive Chirurgie von Ärzte ohne Grenzen in Jordanien zu verlegen.
Hier in Amman wurde Omar weiter operiert und psychologisch betreut. Jetzt kann er wieder stehen, spielen und einfach wieder Kind sein. Zu sehen, wie er seine ersten Schritte in Richtung Genesung macht, erinnert uns daran, dass das Leben auch nach all dem, was wir durchlebt haben, wieder beginnen kann.
Wir werden dennoch immer die Narben dessen tragen, was geschehen ist – ein Genozid. Wir können immer noch kaum glauben, dass das uns, unseren Kindern und dem Land, das wir so sehr lieben, widerfahren ist.
Anmerkung der Redaktion:
Seit dem 7. Oktober 2023 hat das Krankenhaus für rekonstruktive Chirurgie von Ärzte ohne Grenzen in Jordanien 45 Kinder aus dem Gazastreifen zusammen mit ihren Begleitpersonen aufgenommen (Stand 26.10.2025). Sie werden in Amman in unserer Klinik versorgt, die auf rekonstruktive Chirurgie und Rehabilitation spezialisiert ist.
Sie wurde ursprünglich 2006 gegründet, um Überlebende des Irakkriegs zu behandeln. Als die Zahl der konfliktbedingten Verletzungen in der Region stark anstieg, wurde das Krankenhaus erweitert, um Patient*innen aus mehr als sechs benachbarten Ländern aufzunehmen und ihnen medizinische Fachkenntnisse anzubieten, die in ihren Heimatländern nicht verfügbar sind. Es ist spezialisiert auf Patient*innen mit schweren Verletzungen und Verbrennungen, der ganzheitliche Ansatz umfasst chirurgische Versorgung, Physiotherapie, Ergotherapie, und psychosoziale Versorgung. Die meisten Patient*innen bleiben mehrere Monate in der Einrichtung, um ihre physischen und psychischen Wunden zu heilen.