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Ein Vater, drei Söhne, das Meer und die Hoffnung

Candida Lobes ist Kommunikationsmanagerin an Bord unseres Such- und Rettungsschiffs Geo Barents. Bei einer komplizierten Rettung am 16. November lernte sie Ali, seine Brüder und deren Vater kennen. Eine Woche später blickt sie zurück. Ein Bericht:

Ali* ist 7 Jahre alt - er hält die Hand seines Vaters, als unser Team ihn aus dem Rettungsboot auf das Deck der Geo Barents hilft. Mustafa, Alis Vater, humpelt. Es muss ihm schwerfallen aufzustehen, nachdem er stundenlang in der gleichen Position in einem überfüllten Boot gesessen hat und nun auf der schwankenden Geo Barents steht. Aber Ali hilft ihm, hält ihn fest. Als ich zu ihnen komme und den beiden eine Wärmedecke um die Schultern lege, bemerke ich den arabischen Schriftzug auf dem Arm des Jungen.

Ich hatte Angst, dass ich es nicht schaffe, also habe ich auf Alis Arm die Kontaktdaten seiner Mutter in Syrien geschrieben. Ich hatte gehofft, dass sich jemand um meinen Sohn kümmern und sie informieren würde, wenn mir auf dem Boot etwas zugestoßen wäre.

Mustafa erzählt mir, dass sie Libyen am Vortag mit dem Holzboot verlassen hätten. "Als ich all die Menschen sah, die an Bord kamen, wurde mir klar, dass es zu voll ist. Ich hatte Angst, wollte von Bord gehen und schrie den Mann an, den ich bezahlt hatte, um auf das Boot zu kommen, er solle uns gehen lassen", sagt Mustafa. "Aber es war zu spät. Der Mann drohte, meine Söhne und mich zu erschießen. Wir hatten keine Wahl."

99 Überlebende, 10 Tote

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Eine Familie sitzt mit Rettungswesten an Board eines Schiffes
Mustafa und seine drei Söhne warten, bis sie von der italienischen Küstenwache von der Geo Barents an Land gebracht werden.
© Virginie Nguyen Hoang

Mustafa und seine drei Söhne gehören zu den 99 Überlebenden, die unser Team auf der Geo Barents am 16. November während einer schwierigen Such- und Rettungsaktion in etwa 30 Seemeilen vor der libyschen Küste entfernt, geborgen hat. Die Überlebenden berichteten, dass sie von der Küste bei Zuwara am späten Abend des 15. Novembers mit 109 Personen abgelegt hätten. 109 Menschen in einem kleinen Holzboot.

Nach einigen Meilen auf See verschlechterte sich das Wetter, die Wellen wurden höher und der Motor fiel aus. "Die Menschen gerieten in Panik, wir hatten Frauen und Kinder an Bord, sie hatten alle Angst. Sie weinten, schrien und brachten aus Verzweiflung das Boot zum Schwanken. Ich konnte nichts tun, ich konnte nur zu Gott beten, dass meine Söhne am Leben bleiben", erinnert sich Mustafa während er Ali in den Armen hält.

Nachdem unser Team das in Seenot geratete Holzboot am frühen Nachmittag erreichte und die Überlebenden an Bord der Geo Barents gebracht hatte, entdeckten wir die Leichen von 10 Personen. Sie befanden sich im Bodenraum des Bootes. Vermutlich waren sie an giftigen Treibstoffdämpfen erstickt. Die Überlebenden berichteten uns, dass die Menschen mehr als 13 Stunden auf dem beengten Unterdeck des Bootes verbracht hatten.