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Ägypten

Seenotrettung: Lebensrettende Hilfe wird auf dem zentralen Mittelmeer systematisch behindert

Rom/Berlin, 12. Juni 2025. Die systematische Behinderung ziviler Such- und Rettungseinsätze auf dem zentralen Mittelmeer hat dramatische Folgen für Menschen auf der Flucht: Vor allem Überlebende, die vor Gewalt in Libyen fliehen, verlieren so ihre letzte Hoffnung auf Rettung. Dies zeigt der heute von Ärzte ohne Grenzen veröffentlichte Bericht Deadly Manoeuvres: Obstruction and Violence in the Central Mediterranean.


Der Bericht stützt sich auf Einsatzdaten des von Ärzte ohne Grenzen betriebenen Rettungsschiffs Geo Barents sowie auf Aussagen von Menschen, die 2023 und 2024 aus Seenot gerettet und an Bord der Geo Barents medizinisch versorgt wurden. Er zeigt auf, wie italienische Gesetze – insbesondere das sogenannte Piantedosi-Dekret – die lebensrettende Arbeit von Such- und Rettungsschiffen massiv behindert haben.  

Diese Gesetze hindern Such- und Rettungsschiffe mitunter nicht nur an der Weiterfahrt, sondern ermöglichen den italienischen Behörden auch, ihnen nach der Rettung von Menschen im Mittelmeer weit entfernte Häfen in Norditalien zuzuweisen, damit Gerettete von Bord gehen können. Dies hat die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen derart eingeschränkt, dass die Organisation den Einsatz der Geo Barents im Dezember 2024 eingestellt hat.  

Durch die Einschränkungen konnten immer weniger Menschen gerettet werden: Während die Geo Barents bei ihren Einsätzen 2023 noch 4646 Menschen aufnehmen und sicher an Land bringen konnte, waren es 2024 nur noch 2278. Zudem waren die Geretteten zuletzt immer häufiger in einem gesundheitlich kritischen Zustand. So stieg die Zahl der medizinischen Überweisungen um 14 Prozent.  

Die Rettungskapazitäten der Geo Barents seien aktiv und institutionell untergraben worden, so Juan Matias Gil, Leiter der Seenotrettung bei Ärzte ohne Grenzen. „Das Piantedosi-Dekret ist ein beispielloser Mechanismus zur Behinderung ziviler Such- und Rettungsmaßnahmen.“  

Der Bericht von Ärzte ohne Grenzen zitiert auch Menschen, denen die Flucht aus Libyen zunächst gelungen ist. Sie berichten jedoch von gewaltsamen Abfangmanövern auf See und zwangsweisen Rückführungen nach Libyen. Diese Praktiken werden von der Europäischen Union politisch und finanziell gefördert, um zu verhindern, dass Menschen in Europa Schutz suchen.

Wir haben in den vergangenen Jahren Zeugenaussagen und Daten gesammelt, die belegen, dass es diese enge Zusammenarbeit zwischen Italien und der EU mit der libyschen Küstenwache und anderen bewaffneten Akteuren gibt – und zwar mit dem Ziel, Menschen abzufangen und sie zurück in den Kreislauf von Erpressung und Misshandlung zu schicken

Juan Matias Gil, Leiter der Seenotrettung bei Ärzte ohne Grenzen

Im Jahr 2024 erklärten alle 124 Patient*innen, die auf der Geo Barents psychologisch betreut wurden, dass sie während ihrer Reise physische und/oder psychische Gewalt erlebt hatten. Jede*r zweite Befragte gab an, in der Haft in Libyen misshandelt worden zu sein.  

Die Autor*innen des Berichts fordern die italienischen Behörden auf, lebensrettende Hilfe auf See von Nichtregierungsorganisationen nicht weiter zu behindern. Sie fordern außerdem von der EU und ihren Mitgliedsstaaten, jegliche finanzielle und materielle Unterstützung der libyschen Küstenwache unverzüglich einzustellen. Zwangsrückführungen nach Libyen dürfen nicht weiter durch die EU unterstützt werden.  

Ärzte ohne Grenzen ist seit 2015 auf dem zentralen Mittelmeer mit Such- und Rettungsschiffen aktiv. Seitdem hat die Organisation allein oder in Zusammenarbeit mit anderen NGOs mehr als 94.000 Menschenleben gerettet. Das letzte Rettungsschiff von Ärzte ohne Grenzen, die Geo Barents, war von Juni 2021 bis Ende 2024 im Einsatz und rettete 12.675 Menschenleben. Seit Inkrafttreten des Piantedosi-Dekrets im Januar 2023 wurde die Geo Barents viermal festgesetzt und musste insgesamt 160 Tage im Hafen verbringen. Weil das Schiff gezwungen war, nach Rettungsaktionen weit entfernte Häfen in Norditalien anzulaufen, verbrachte die Geo Barents zwischen Dezember 2022 und Dezember 2024 insgesamt 163 zusätzliche Tage auf See und legte 64.966 zusätzliche Kilometer zurück.  

 

Bericht: "Deadly Manoeuvres"

Dieser Bericht gibt Einblicke in die Einsätze von Ärzte ohne Grenzen auf dem Mittelmeer: in die Rettung von Menschenleben und die medizinische Versorgung Geflüchteter. Er zeigt außerdem, wie die systematische Behinderung durch italienischen Behörden von zivilen Such- und Rettungseinsätze auf dem zentralen Mittelmeer dramatische Folgen für Menschen auf der Flucht hat.