Die aktuelle Situation in Afghanistan
Mit dem Ende der Kampfhandlungen im August 2021 hat sich die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan etwas verbessert. Mehr Menschen erreichen wieder unsere Kliniken und können behandelt werden. Doch die zunehmende Armut und das nicht funktionierende Gesundheitssystem verschärfen die aktuelle humanitäre Krise in Afghanistan.
Für uns als Organisation hat sich seit August 2021 wenig geändert. Wir stehen weiterhin in Kontakt mit der Regierung in Kabul und den anderen Provinzhauptstädten, in denen wir medizinische Projekte haben, und führen unsere Aktivitäten fort. Wir beschäftigen in unseren Projekten weiterhin sowohl afghanische als auch internationale weibliche Mitarbeiterinnen.
Unsere Teams sind in sieben Provinzen im Einsatz und leisten dringend notwendige medizinische Hilfe: Helmand, Herat, Kandahar, Chost, Kundus, Paktika und Kabul. Von Januar bis Juni 2022 wurden in unseren Einrichtungen 21.143 Kinder geboren, unsere Teams behandelten 11.599 Menschen mit Masern, führten 6.466 chirurgische Eingriffe durch und behandelten 3.792 Menschen stationär gegen Mangelernährung.
Wie wir in Afghanistan helfen
- Wir behandeln mangelernährte Kinder
- Wir versorgen Schwangere und Neugeborene und bieten kostenlose Geburtshilfe.
- Wir kümmern uns in Notaufnahmen um die Versorgung von Verletzten und Verwundeten, etwa nach dem jüngsten Erdbeben oder Verkehrsunfällen.
- Wir behandeln Menschen, die zum Beispiel an Tuberkulose oder Covid-19 erkrankt sind.
- Wir versorgen Vertriebene unter anderem mit sauberem Wasser und leisten medizinische Unterstützung.
- Wir sorgen für medizinische Notfallversorgung im Fall Naturkatastrophen, wie dem Erdbeben im Juni 2022.
Warum wir in Afghanistan helfen
Für die Menschen in Afghanistan ist die Lage sehr schwierig. Die Wirtschaft ist zusammengebrochen, die Lebensmittelpreise sind um ein Vielfaches gestiegen, Millionen Menschen finden keine Arbeit. Grund dafür sind die Sanktionen, die von der internationalen Gemeinschaft verhängt wurden. Das Gesundheitssystem in Afghanistan ist stark von ausländischer Finanzierung abhängig. Obwohl diese in Teilen inzwischen wieder aufgenommen wurde, ist sie immer noch deutlich geringer als vor August 2021 und bleibt unsicher.

Persistent barriers to access health care in Afghanistan
Der Bericht „Persistent barriers to access health care in Afghanistan: The ripple effects of a protracted crisis and a staggering economic situation“ von Ärzte ohne Grenzen gibt einen Einblick in das Thema "Zugang zur Gesundheitsversorgung in Afghanistan".
88 Prozent der Befragten schieben die erforderliche medizinische Versorgung auf und nehmen sie nicht in Anspruch.
91,2 Prozent der Befragten gaben an, dass die zunehmende Arbeitslosenrate und die steigenden Preise den Kauf von Grundnahrungsmittel erschweren. Das Einkommen vieler Menschen sei im vergangenen Jahr gesunken. Zudem behandelten wir in den vergangenen Monaten mehr mangelernährte Patient*innen. Darunter viele Mütter, die keine Milch für ihre Kinder produzieren können. Infolge einer anhaltenden Dürre sowie der Wirtschaftskrise ist davon auszugehen, dass sich die Lage hinsichtlich Mangelernährung noch verschärfen wird.
Es mangelt in Gesundheitseinrichtungen an qualifiziertem Personal, Ausbildung, Finanzmitteln, Medikamenten und Ausrüstung. Unsere Patient*innen berichten von langen, gefährlichen Wegen, um mangelernährte Babys, Schwangere oder verletzte Angehörige ins Krankenhaus zu bringen. Hierbei werden insbesondere geschlechtsspezifische Unterschiede deutlich. Frauen sind beim Zugang zur Gesundheitsversorgung mit größeren Hindernissen konfrontiert. Dies liegt primär daran, dass Frauen ihr Zuhause meist nur mit Begleitung eines männlichen Verwandten verlassen dürfen. Hinzu kommt das Verbot für Frauen, zu lernen und zu arbeiten. Es ist zu befürchten, dass es in der nächsten Generation an Ärztinnen, Hebammen und Krankenpflegerinnen mangeln wird. Demzufolge würde eine beachtliche Gefährdung für das Leben vieler Mütter und Kinder entstehen. Ein völliger Zusammenbruch des afghanischen Gesundheitssystems stellt eine reale Gefahr dar.
Wir bleiben da – Afghanistan nach dem Regierungswechsel
Maria Fix, leitende Pflegekraft in unserem Krankenhaus im Süden von Afghanistan, berichtet über die Situation in Afghanistan und wie wir humanitäre Hilfe vor Ort leisten.
Unsere Arbeit basiert auf den humanitären Prinzipien der Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Diese mögen oft abstrakt wirken. Am Beispiel Afghanistan sehen wir jedoch, wie unerlässlich sie sind: Denn sie sind der Hauptgrund, warum wir unsere Arbeit vor Ort weiterführen können. Die Behandlung von Patient*innen ist unsere Verantwortung, und gleichzeitig hat die Sicherheit unserer Teams und Patient*innen stets höchste Priorität.
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63.2Jahre im Durchschnitt.
In Deutschland: 83.7 Jahre -
63.3Jahre im Durchschnitt.
In Deutschland: 78.9 Jahre -
2343Mitarbeiter*innen waren für uns im Einsatz.
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39.5Millionen Euro haben wir für unsere Hilfe vor Ort aufgewendet.
Quellen: WHO (2019), MSF International Activity Report 2021 (2022)
Hilfe nach dem Erdbeben in Chost und Paktika
Das schwere Erdbeben im Juni 2022 verursachte in den Provinzen Chost und Paktika im Südosten des Landes immense Zerstörungen. Mehr als 1.000 Menschen verloren ihr Leben, noch mehr wurden verwundet. Um Patient*innen in kritischem Zustand bis zur Überweisung in ein Krankenhaus zu stabilisieren, hatten wir eine Notfallklinik in Zelten aufgebaut. Überlebende des Erdbebens bekamen dort neben medizinischer Hilfe auch psychologische Unterstützung. Außerdem bestand ein hohes Risiko von Dehydrierung und Durchfallerkrankungen. Deshalb haben wir auch den Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen sichergestellt.
Mangelernährung und Masern gefährden vor allem Kinder
Anhaltende Dürren und knappe Lebensmittel sind einige Gründe für Mangelernährung. 2021 wurden deutlich mehr mangelernährte Kinder in unsere Ernährungszentren gebracht als noch im Vorjahr. Seit Monaten behandeln wir Hunderte von ihnen in stationären Ernährungszentren in Helmand und Herat. Die Zahl der erkrankten Kinder steigt auch in Kandahar. Dort haben wir deshalb im Dezember 2021 ein ambulantes therapeutisches Ernährungszentrum eröffnet.
Zusätzlich dazu verzeichnen unsere Mitarbeiter*innen in Helmand und Herat eine besorgniserregende Zahl von Masernfällen. Allein im Februar 2022 behandelten wir mehr als 1.400 an Masern erkrankte Kinder. Masern sind für die Kinder, deren Immunsystem bereits aufgrund von Mangelernährung geschwächt ist, ein lebensbedrohliches Risiko. Wir haben die Kapazitäten in unseren medizinischen Einrichtungen extrem aufgestockt und unterstützen Krankenhäuser in den Regionen. Ohne eine breit angelegte Impfkampagne werden die schweren Krankheitsverläufe in den nächsten sechs Monaten drastisch zunehmen und das schwache afghanische Gesundheitssystem noch mehr unter Druck setzen.
Behandlung von Tuberkulose in Kandahar
Resistente Tuberkulose ist ein großes Problem in Afghanistan. Mangelndes Wissen über die Krankheit und unzureichende Verfügbarkeit von wirksamen Medikamenten verschärfen das Problem. In Kandahar unterstützen wir deshalb das Gesundheitsministerium bei der Diagnose und Behandlung von resistenten Formen der Tuberkulose. In unserem Behandlungszentrum versorgen wir Patient*innen sowohl ambulant als auch stationär und unterstützen sie bei den psychischen Herausforderungen, die mit der monatelangen Behandlung einhergehen.
Im April 2021 eröffneten wir eine neue Tuberkulose-Station mit 24 Betten. Als die Kämpfe im Juli schließlich die Stadt erreichten, erhielten die Patient*innen von uns einen größeren Vorrat an Medikamenten, falls es zu gefährlich für sie werden würde, zu uns zu kommen.
Seit Dezember 2019 können wir unseren Patient*innen auch eine tablettenbasierte neunmonatige Behandlung bieten: Für die Menschen bedeutet das weniger Nebenwirkungen, eine deutlich kürzere Behandlungsdauer und ein Zugewinn an Lebensqualität. Daneben unterstützen wir das Mirwais-Regionalkrankenhaus, das Tuberkulose-Zentrum der Provinz sowie das Sarposa-Gefängnis in Kandahar bei der Diagnose und Behandlung von Tuberkulose.
Lebensrettende Geburtshilfe für Mütter und Kinder
In unserer Klinik in Chost kommen mehr Kinder zur Welt als in jedem anderen Projekt von Ärzte ohne Grenzen. Im November 2021 waren die Betten zu 130 Prozent belegt. Dank kostenloser, qualitativ hochwertiger Gesundheitsversorgung können wir in unseren beiden Krankenhäusern in den Provinzen Chost und Helmand das Leben vieler Mütter und Neugeborenen retten. Ein wichtiger Beitrag in einem vom Krieg gezeichneten Land: Denn nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben in Afghanistan fast 70 Mal mehr Mütter bei der Geburt als in Deutschland. Ein Grund dafür ist, dass in dem Land nur knapp mehr als die Hälfte der Geburten durch geschultes Personal begleitet wird. In ländlichen Regionen wie der Provinz Chost wird die Lage dadurch verschärft, dass es nur Frauen erlaubt ist, Patientinnen zu behandeln.
Deshalb ist die Ausbildung von medizinischem Personal ein wichtiger und integraler Bestandteil unserer Arbeit in Afghanistan. Allein in unserer Klinik in Chost arbeiten rund 280 Afghaninnen. Das Projekt ist damit inzwischen der größte Arbeitgeber für Frauen in der Region. Außerdem unterstützen wir insgesamt acht weitere Gesundheitszentren in der Region, damit Patientinnen bei unkomplizierten Geburten näher an ihrem Wohnort entbinden können.
Als Hebammen in Afghanistan sind wir die stillen Führerinnen unseres Landes. Wir stehen am Bett der schwangeren Frauen, die die Zukunft des Landes zur Welt bringen - und wir müssen geschützt werden.
Zahra Koochizad, Mitarbeiterin von Ärzte ohne Grenzen auf der Geburtsstation im Krankenhaus Dasht-e-Barchi in Kabul
Nicht nur der Weg in eine Klinik ist riskant, sondern auch die Ankunft in einer Einrichtung ist keine Garantie für Sicherheit. Das mussten unsere Patient*innen und Mitarbeiter*innen am 12. Mai 2020 schmerzlich erfahren. Bewaffnete Männer stürmten die Entbindungsstation im Krankenhaus Dascht-e-Bartschi in Kabul. Nach dem tödlichen Angriff mit 24 Toten haben wir das Projekt geschlossen, da wir die Sicherheit unserer Mitarbeiter*innen und Patientinnen nicht mehr garantieren konnten. Für die Gesundheit der Frauen und Kinder in der Region hat das schwerwiegende Folgen. Denn eine wichtige Hilfe fehlt nun. Mit fast 16.000 Entbindungen im Jahr 2019 war die Entbindungsstation eines unserer größten derartigen Projekte weltweit.
Covid-19-Behandlungszentrum in Herat
Im November 2021 behandelten wir täglich etwa 100 Covid-19-Verdachtsfälle im Regionalkrankenhaus in Herat. Die wenigen Patient*innen, die in kritischem Zustand oder schwer erkrankt waren, haben wir an Covid-19-Behandlungszentren überwiesen, darunter auch unsere nahe gelegene Covid-19-Behandlungseinrichtung.
Schon Ende Februar 2020 gab es in Herat erste Erkrankte. Die Pandemie verschlechterte die Situation im seit Jahrzehnten überlasteten afghanischen Gesundheitssystems weiter. Viele Ärzt*innen und Pflegekräfte erkrankten schwer. Der Mangel an Fachpersonal war überall zu spüren. Wo immer möglich, haben wir unsere Projekte um Angebote für Covid-19-Patient*innen erweitert: In unserer Geburtsklinik in Chost beispielsweise haben wir eine separate Station für an Covid-19 erkrankte Schwangere und Neugeborene eingerichtet. In den Projekten in Helmand und Kandahar behandelten wir Covid-19-Patient*innen mit Komorbiditäten.
Notfallversorgung in Laschkar Gah
Die Provinz Helmand ist seit mehr als einem Jahrzehnt Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen. Auch nach der Machtübernahme durch die Taliban ist das Boost-Krankenhaus in Lashkar Gah ausgelastet. Denn es ist das einzige voll funktionsfähige öffentliche Krankenhaus in der Provinz. In unserer Notaufnahme herrscht weiterhin Hochbetrieb.
Im Mai 2021 kam es in der Gegend von Laschkar Gah zu schweren Kämpfen, die bis August 2021 anhielten. Vor allem im Juli und August wurde in den Straßen heftig gekämpft, wodurch es für die Menschen zu gefährlich wurde, ins Krankenhaus zu kommen. 13 Tage lang war es unseren Teams nicht möglich, das Boost-Krankenhaus zu verlassen. Dennoch versorgten wir viele Verletzte und Verwundete. Unsere Teams unterstützen ihre afghanischen Kolleg*innen unter anderem in der Notaufnahme, in der im vergangenen Jahr täglich rund 300 Patient*innen mit Verletzungen, Atemwegsinfektionen oder akutem Durchfall Hilfe suchten. Außerdem arbeiteten unsere Teams in der Chirurgie, in der Neonatologie und Pädiatrie.
Zuletzt aktualisiert: 16. Januar 2023