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Auf der Ladefläche eines Land Cruiser

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Portrait: Erik Gaitzsch

Erik Gaitzsch

Ich bin ein Arzt aus München und arbeite in Mundri im Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen im Südsudan. Mein Team und ich kümmern uns hier um Patient*innen, die so schwer erkrankt sind, dass sie stationär aufgenommen werden müssen.

Während meiner Zeit in Mundri habe ich immer mal wieder Nachrichten geschrieben, um meine Familie und Freund*innen an meinem ersten Einsatz mit Ärzte ohne Grenzen teilhaben zu lassen. Bei meiner letzten Nachricht geriet ich ins Grübeln, wie ich das halbe Jahr, in dem das kleine, schlichte Krankenhaus in Mundri mein Arbeitsplatz war und die südsudanesischen Kolleg*innen zu Freund*innen wurden, zusammenfassen sollte.

Und auch jetzt am Jahresende und im Rückblick auf meine sechs Monate im Südsudan, gibt es zu viele Eindrücke, Erfahrungen und Erkenntnisse, um sie in einen Text zu fassen..

Ich wollte über humanitäre Arbeit schreiben...

Als ich mir vorgenommen hatte, meinen Freund*innen und meiner Familie Bericht zu erstatten, wollte ich vor allem über das Land und die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen schreiben. Ich hatte versprochen, über meine persönlichen Gründe zu schreiben, warum ich mit Ärzte ohne Grenzen arbeiten wollte. Wollte ihnen von den humanitären Prinzipien erzählen, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit, die uns helfen, Zugang selbst in Gegenden zu bekommen, wo andere Hilfsorganisationen zurückgewiesen werden.

Heute könnte ich auch über überfüllte Stationen mit kranken Kindern, über Krampfanfälle und Schlangenbisse, Brandverletzungen und von der Reanimation Neugeborener schreiben. Ich könnte über medizinische Evakuierungsmissionen berichten, die Zeit als Arzt im größten Vertriebenenlager des Südsudans oder über Strategiesitzungen mit der Landeskoordination zur Projektplanung. Ich könnte über die existentielle Armut im Land und mangelnde Gesundheitsversorgung berichten oder über mein Privileg einer hoch qualifizierten Ausbildung. Ich könnte über Solidarität und Gerechtigkeit schreiben und was Gesundheit über Grenzen, über politische, ethnische und soziale Grenzen hinweg für mich bedeutet.

Stattdessen…

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Ein Wachmann in Mundri
Der Wachmann Wilson ist mir besonders in Erinnerung geblieben.
© MSF

Stattdessen möchte ich über ein Erlebnis schreiben, das sinnbildlich für mich ist. Ich möchte über einen Freund, Wilson D.*, den Wachmann aus Mundri schreiben:

„Du musst dich anschnallen“, sage ich aus dem Laderaum des Land Cruisers in die schwach beleuchtete Fahrerkabine. Wilson blickt sich ahnungslos um und scheint nicht zu verstehen, was ich meine. Mir wird bewusst, dass er nicht weiß was ein Sicherheitsgurt ist. Und auch der Fahrer versteht schnell. Sanft greift er hinüber, um nach dem Gurt zu fassen und den unwissenden Beifahrer zu sichern. Ruhig, fast zärtlich zeigt der Fahrer seinem Nebenmann wie man den Gurt über die Brust legt und die Schnalle in das Gurtschloss führt. Er knipst die Scheinwerfer an und startet den Motor, langsam rollen wir durch das große Tor am Eingang des Compounds in die Dunkelheit. Es ist kurz nach acht Uhr abends, die Sonne ist schon seit mehr als zwei Stunden untergegangen; die Dämmerung ist kurz am Äquator.

Wir bringen Wilson nach Hause. Trotz hohen Fiebers, Kopf- und Gliederschmerzen durch eine Malariainfektion war er heute Abend zum Dienst gekommen. Wie jedes Mal kam er mit der kleinen Lunchbox in der Hand. Nur der schlurfende Gang war langsamer als sonst, die Augenlider hingen tiefer. Ich kenne Wilson jetzt seit fast einem halben Jahr. Ich kenne seine charakteristischen Bewegungen, wenn er das Tor öffnet, die Routine, seine Lunchbox nach dem Essen am Wassertank zu spülen und sein unverkennbares „Send Your Message“ über das Funkgerät.

Und ich kenne seinen fünfzehn Monate alten Sohn James. Zweimal haben wir ihn in unserer Notaufnahme behandelt. Das erste Mal mit einer schweren Lungenentzündung, die Antibiotika- und Sauerstofftherapie erforderte, das zweite Mal mit Malaria und einer Nierenbeckenentzündung.

Jedes Mal war Wilson bei seinem Sohn, kümmerte sich um ihn tagsüber und ging abends zur Nachtschicht. Jedes Mal saß er bei dem kranken Kind an der Bettkante und kühlte den heißen Kopf mit feuchten Tüchern.

Das Bild des Anderen

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Erik steht vor einem Landcruiser von Ärzte ohne Grenzen

Die Geschichten, die wir aus diesem Teil Afrikas erzählt bekommen, sind oft dramatisch und auf die großen Unterschiede von Wohlstand, Kultur oder Hautfarbe fokussiert. Sie erzeugen eine Sentimentalität, die unsere Privilegien rechtfertigt. Immer wieder wird das Bild des Anderen reproduziert, des armen und rückständigen Anderen (für diese Armut gibt es Gründe, es ist kein schicksalhafter Zufall – aber das erklären andere besser).

Ja, ich habe Unterschiede gesehen. Ich habe Kleinkinder an Mangelernährung leiden sehen, habe existenzielle Armut und die Auswirkungen mangelnder Gesundheitsversorgung gesehen. Was ich allerdings neben all dem tatsächlich erleben durfte, waren nicht die Verschiedenheiten der Kulturen oder unterschiedlichen Kenntnisse von Sicherheitsgurten, sondern die universellen Gemeinsamkeiten von Menschen: die unbedingte Liebe von Eltern zu ihren Kindern, die Trauer über den Verlust eines geliebten Angehörigen, das Mitgefühl dem kranken Bettnachbarn gegenüber; das Bedürfnis für Sicherheit und Nahrung für die Familie zu sorgen, Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen und der Wunsch, den Nachkommen ein besseres Leben zu bieten als das eigene.

Als wir ankommen, öffnet der Fahrer routiniert den Anschnaller und Wilson schiebt langsam die Tür auf. Er steigt aus und schlurft in Richtung seiner Lehmhütte. Es ist absolut dunkel, nur der Scheinwerfer und die Glut eines kleinen Feuers vor der Hütte spenden Licht. Wilson dreht sich um, hebt die müde Hand zum Gruß und verschwindet im Inneren des Tukuls. Ich mag die Vorstellung, dass in dieser Nacht sein Sohn James über den kranken Vater gewacht hat.

Der Text ist allen gewidmet denen ich im Laufe meiner Monate im Südsudan begegnet bin und die mich eingeladen haben, sie kennenzulernen. Meine Dankbarkeit gilt dem ganzen Team in Mundri & Kediba mit all ihren Geschichten, den kleinen Momenten voll Herzlichkeit, der Leidenschaft für die Patient*innen und dem vereinten Ziel, das Leben für die Gemeinschaft ein klein wenig besser machen zu wollen.

 

*Name geändert