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Leben retten im Südsudan

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Erin Lever

Erin Lever

Ich bin Hebamme und war sechs Monate lang als Leiterin in Bentiu.
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Eine schwangere Patientin liegt auf einem Krankenhausbett und wird von zwei Hebammen untersucht
Erin Lever arbeitet auf der Entbindungsstation des Krankenhauses im Camp in Bentiu.
© MSF/Lauren King

Ich habe ein halbes Jahr lang für Ärzte ohne Grenzen in einem Krankenhaus in Bentiu, im Südsudan, gearbeitet. Es ist die einzige Gesundheitseinrichtung für die 130.000 Bewohner*innen des nahegelegenen Vertriebenencamps. Aufgrund der jüngsten Überschwemmungen ist das Camp fast vollständig vom Hochwasser umzingelt. Auf der Entbindungsstation des Krankenhauses werden Frauen mit Schwangerschaftskomplikationen behandelt, die oft erst in letzter Minute und in einem kritischen Zustand zu uns kommen können. 

Als Hebamme habe ich rund um die Uhr Bereitschaftsdienst, um das Team jederzeit spontan bei komplizierten Fällen unterstützen zu können. Eines Nachts erhielt ich einen Notfall-Anruf: Eine Frau wurde eingeliefert – sie war in den letzten Wochen ihrer Schwangerschaft und hatte starke Blutungen. 

Eine lange Reise  

Als ich in der Nacht die Entbindungsstation betrat, warteten mindestens zehn Männer im Warteraum. Sie waren Angehörige der Frau und hatten sich zu Fuß auf den Weg ins Krankenhaus gemacht, als ihr Zustand ernst wurde. Sie haben sich mitten in der Nacht drei Stunden lang durch das Hochwasser gekämpft und haben die schwangere Frau dabei auf einer Decke getragen. 

Meine Kolleg*innen und ich waren beeindruckt von dem, was die Männer für die schwangere Frau auf sich genommen hatten. 

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Luftaufnahme des vom Hochwasser umgebenen Lagers Bentiu
Das Camp in Bentiu ist fast vollständig vom Hochwasser umgeben.
© Jacob Goldberg/MSF

Sie erklärten meinen südsudanesischen Kolleg*innen, dass sie sich mit dem Tragen abwechselten: Als das Wasser zu tief wurde, übernahmen die größeren Männer - in den flacheren Abschnitten waren die kleineren Männer wieder an der Reihe. Sie waren völlig durchnässt und sahen sehr erschöpft aus.  

Kritischer Zustand  

Bei der ersten Untersuchung stellten wir fest: Die Frau hatte viel Blut verloren, war aber ansonsten stabil, obwohl sie immer noch blutete. Auch ihrem Baby ging es gut. 

Wir vermuteten eine partielle Plazentaablösung: Dabei beginnt sich die Plazenta vorzeitig von der Gebärmutterwand abzulösen. Dies kann zu einer lebensbedrohlichen Blutung für die Mutter führen und da der Blutfluss zur Plazenta beeinträchtigt wird, kann auch das Baby daran sterben. 

Wir sind eine der wenigen Entbindungseinrichtungen in dieser Region, die durch Spenden von Freiwilligen eine Blutbank zur Verfügung haben. Die Blutkonserven sind schwer zu bekommen und auch unser Vorrat ist begrenzt. Glücklicherweise hatte die Frau eine gängige Blutgruppe, sodass wir auf eine mögliche Transfusion vorbereitet waren.  

Keine Atmung  

Bei der weiteren Untersuchung stellten wir fest, dass sich die Frau bereits im Frühstadium der Wehen befand. Sie gab uns ihr Einverständnis, den Prozess zu beschleunigen, damit die Blutung aufhört und das Baby eine bessere Überlebenschance hat. Da sie bereits mehrere Schwangerschaften hinter sich hatte, ging es mit der Geburt schnell voran: Ihr Baby war geboren. Aber: Es atmete nicht.  

Das hatten wir befürchtet - wahrscheinlich lag es daran, dass die Plazenta während der Wehen nur teilweise funktioniert hat. Wir begannen sofort mit der Wiederbelebung. 

Endlich ertönte ein Schrei und eine Welle der Erleichterung brach über mich herein: Das kleine Mädchen atmete von selbst.

Zwei Notfälle  

Aber es blieb keine Zeit zum Ausruhen: Die Mutter hatte eine schwere Nachgeburtsblutung. Ihr Zustand war instabil und sie benötigte dringend eine Bluttransfusion, da ihr Körper mit dem Blutverlust nicht zurecht kam und sie langsam bewusstlos wurde. 

Nachdem sie eine Einheit Notfallblut von unserer Blutbank erhalten hat, war sie auf Spenden von ihren Familienmitgliedern angewiesen. In manchen Fällen ist es schwierig, da das Blutspenden in der Region oft kritisch gesehen wird, doch in diesem Fall haben die Angehörigen der Frau ohne zu zögern gespendet.  

Adrenalin und Erschöpfung 

Trotz der enormen körperlichen Anstrengung, die die Männer auf sich genommen hatten, standen sie in der Schlange, um einen halben Liter Blut zu spenden und das Leben der Frau zu retten.

Am frühen Morgen hat die Frau die notwendigen Blutkonserven erhalten und sie und ihr Baby werden wieder gesund werden. Das Team der Nachtschicht ging erschöpft nach Hause – ich spürte die Nachwirkungen einer adrenalingeladenen Nacht. Ohne das Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen, die Teamarbeit der Mitarbeiter*innen in der Geburtshilfe und der Neonatologie, die Stärke und Entschlossenheit der Familie und die Ausdauer der Frau selbst hätten sie und ihr Baby nicht überlebt. 

Aufgrund der jahrelangen Instabilität verfügt der Südsudan nur über ein sehr begrenztes öffentliches Gesundheitssystem. Die letzten Überschwemmungen waren die schlimmsten, die der Südsudan in den letzten 60 Jahren erlebt hat und sie wirken sich auf alle Lebensbereiche der Menschen aus: Sie sind von der Außenwelt abgeschnitten, das Risiko von Krankheiten wie Cholera und Malaria steigt, und der Zugang zur Grundversorgung wird noch schwieriger. Ärzte ohne Grenzen leistet in dieser Region die dringend benötigte, qualitativ hochwertige medizinische Versorgung.