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Prägender, fordernder und berührender als alles zuvor

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Annette Werner bei einem Einsatz im Jemen als Kinderärztin

Annette Werner

Ich bin Kinderärztin und war in meinem Einsatz für Ärzte ohne Grenzen im Jemen. Dort betreute ich Projekte – eines davon in Haydan, einem Bergdorf im Nordjemen.

Eine lange Reise geht zu Ende. Sieben Monate war ich im Jemen. Ich weiß noch wie ich mich vergangenes Jahr bei Ärzte ohne Grenzen beworben habe, wie aufgeregt ich war und wie glücklich als ich die Zusage bekommen habe. Dann kam die Ungewissheit. Wann geht es los? In welches Land? Mal sprach man von Nigeria, dann vom Südsudan. Und plötzlich tauchte im Herbst dann der Jemen vor meinen Augen auf, stark und groß. Drei Wochen habe ich mir damals Zeit genommen, viel gelesen, gesehen, gehört, mich bemüht so viele Informationen wie möglich über das Land und den Krieg zusammenzutragen. Schlussendlich hat mich ein Podcast über die Lage vor Ort überzeugt. Ich habe ihn im Auto gehört, als ich gerade von Mainz nach Frankfurt fuhr. Am Ende habe ich geweint – und die Entscheidung war gefallen. So entwickelte sich also ein Weg, der der beeindruckendste und lehrreichste in meinem bisherigen Leben wurde. Sieben Monate im Jemen mit Erfahrungen, die mich tief geprägt haben…

Meine letzten Wochen in Khamer, einem kleinen Dorf im Nordjemen, waren dabei fordernder und berührender als alles zuvor.

Es hatte sehr starke Regenfälle gegeben, die zu schweren Überschwemmungen führten und im Bezirk von Amran einen Deichbruch verursachten. Es war ein Donnerstagabend Anfang August. Mohammed, der jemenitische Kinderarzt vor Ort, und ich wurden noch einmal in die Notaufnahme gerufen, weil ein Kind mit Krampfanfällen eingeliefert worden war. Wir hatten das Kind gerade stabilisiert, als die Tür aufgestoßen und ein 8-jähriger Junge von seinem Vater hereingetragen wurde. Es war sofort ein irrsinniges Getümmel: Vater, schreiende Mutter, schreiende Großmutter, mehrere Krankenpfleger*innen, der diensthabende Notarzt und wir Kinderärzt*innen. Bruchstückhaft erfuhren wir, dass die Eltern den Jungen ertrinkend in den Fluten gefunden hatten. 

Keinen Zentimeter wegbewegen

Wir versuchten uns ein Bild vom Zustand des Jungen zu machen: Er war mit einer Körpertemperatur von nur 32 Grad stark unterkühlt, bewusstlos und hatte durch den Sauerstoffmangel, den er unter Wasser erlitten hatte, andauernde Krampfanfälle. In seinem Magen waren große Mengen Wasser, doch die Lunge hörte sich weitgehend frei und gut belüftet an. Das gab uns Hoffnung. Wir begannen direkt mit der Stabilisierung – aufwärmen, Krämpfe kontrollieren, Kreislauf stabilisieren, Ablaufsonde für das Wasser in den Magen legen, Atemweg sichern. Die Herzfrequenz und Sauerstoffsättigung waren die ganze Zeit stabil und das machte uns Mut. Aber es war kompliziert, sehr kompliziert. Zwei Stunden lang brauchten wir, um ihn zu stabilisieren. Zu keiner Zeit bewegten wir uns auch nur einen Zentimeter von seiner Trage weg. Je weiter der Abend voranschritt, umso mehr wuchs unsere Zuversicht – er musste es einfach schaffen.

Nachdem wir ihn stabilisiert hatten, schickten wir ihn mit unserer Ambulanz auf die zwei Stunden lange Fahrt ins Krankenhaus nach Sana´a, für den Fall, dass er doch noch eine mechanische Beatmung benötigen würde. In Sana´a angekommen war er jedoch bereits so stabil, dass er nur noch auf die Überwachungsstation und nicht mehr auf die Intensivstation aufgenommen wurde. Vier Tage später wurde er entlassen. Laufend, sprechend, lachend – gesund. Mein Kollege und ich haben uns so sehr gefreut. Der Junge hatte es geschafft!

Unmögliche Wege

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Kinderstation im Jemen bei der Behandlung eines Kindes
An manchen Tagen bekommt jedes Kind ein Bett, an anderen muss sich Annette Werner einen Weg durch die Matratzen auf dem Boden suchen.
© MSF

Durch die starken Überschwemmungen wurden die ohnehin schon schwierigen Wege aus den ländlichen Bezirken zu unserem Krankenhaus teilweise zu einem Ding der Unmöglichkeit. So brauchte eine Familie ZWEI Wochen, um mit ihrer 9-jährigen Tochter, die schwere Verbrennungen erlitten hatte, aus einem Dorf zu uns zu kommen.

Das Mädchen war in einem sehr schlechten Zustand. Sie hatte im Dorf an einem Motorrad gespielt, das gerade betankt wurde und dabei war Benzin über ihre Beine gelaufen. Später am Feuer hat sich das Benzin auf den Beinen dann durch einen Funken entzündet. Bruder und Vater, die das Feuer löschten, erlitten auch Verbrennungen. Wirklich schlimm waren aber die Verletzungen des Mädchens. Die Verbrennungen reichten teilweise bis auf die Muskulatur. Zwei Wochen lang hatte die Familie versucht die Wunden sauber und das Kind stabil zu halten. Wir wissen nicht wie, aber sie haben es tatsächlich geschafft. Unsere Chirurg*innen machten dann tägliche Verbandswechsel und Wundabtragungen im OP, die Kleine lag bis zu meiner Abreise bei uns auf der Intensivstation.

Ihr Zustand verbesserte sich von Tag zu Tag. Wir bekamen die Infektion in den Griff, ihre Organe funktionierten, die Wunden heilten. In der letzten Woche durfte sie jeden Tag in einem Rollstuhl für eine halbe Stunde an die Luft – und hat es so gefeiert! Dann hat der Vater ihr im Ort eine Puppe besorgt und auf die Intensivstation mitgebracht. Es war wirklich nicht die schönste Puppe, aber das Mädchen saß eine halbe Stunde staunend und ungläubig da, hat die Puppe gedreht und gewendet und über das ganze Gesicht gestrahlt. Das war das Größte für sie. Nun macht sie gute Fortschritte, kämpft, ist geduldig und ich bin sehr zuversichtlich, dass unsere jemenitischen Ärzt*innen sie in den nächsten Wochen in gutem Zustand nach Hause schicken können. 

Verantwortung so schwer wie ein Stein

Die Überschwemmungen hatten zudem die Wasserquellen verunreinigt. Immer mehr akut mangelernährte Kinder kamen bei uns an – mit schlimmen Infektionen, die wir meist nur noch schwer in den Griff bekommen konnten. Häufig kamen die Familien mit den Kindern so spät, dass schon ein akutes Nierenversagen vorlag und leider folgte darauf nicht nur einmal ein Multiorganversagen.

Wir verloren viele Kinder in diesen Wochen und die Situation wurde eine harte Belastungsprobe für unser ganzes Team.

Die Kinderstationen waren so überbelegt, dass man sich bei der Visite einen Weg durch die zusätzlichen Matratzen auf dem Boden suchen musste. Den ganzen Tag über herrschte ein Lautstärkepegel, der es teilweise schwermachte, Gespräche zu führen. Zwischendurch immer wieder neue Notfälle in der Notaufnahme, Risiko- und Frühgeburten in der Frauenklinik und komplexe Fälle, die unsere ganze Aufmerksamkeit und die Unterstützung der Telemedizin forderten. Und dazu die vielen Reanimationen, die sterbenden Kinder auf der Intensivstation, die Daueranspannung und die riesengroße Verantwortung, die uns an manchen Tagen so schwer schien wie ein Stein. 

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Ärztin Annette Werner mit Neugeborenem auf Kinderstation im Jemen
Ein Kinderlächeln in schweren Zeiten: In ihrer Zeit im Jemen sah Annette Werner viele Kinder, für die sie und ihre Kolleg*innen nichts mehr tun konnten. Umso wichtiger waren dann Momente wie dieser.
© MSF

An einem Abend sagte ein jemenitischer Kinderarzt zu mir, dass er gerade am liebsten nur noch weinen möchte. Wir waren manchmal abends so erschöpft, dass wir nur noch irgendwo liegen und gar nichts mehr machen wollten. Ich bin dazu oft auf unser Dach geklettert und habe mich unter den Sternenhimmel gelegt.

In diesen Abendstunden wurde mir sehr bewusst, wie unterschiedlich doch die Lebensbedingungen in unserer Welt sind, wie unterschiedlich die Chancen zu überleben, wie unterschiedlich die Anforderungen an unser tägliches Sein.

Wir leben unser Leben hier in Deutschland manchmal so selbstverständlich, da die Wahrscheinlichkeit, dass wir sehr alt werden statistisch gesehen relativ hoch ist. Wir müssen uns nicht darum sorgen, wie wir unsere Kinder ernähren sollen oder wo wir medizinische Hilfe finden. All das ist einfach da, es ist selbstverständlich – und ist es doch eben nicht. Ich glaube, sich das immer wieder bewusst zu machen und dankbar dafür zu sein ist wichtig, weil es den Fokus wieder auf die wichtigen Dinge richtet: Familie, Freunde, Gesundheit, Freiheit, die Möglichkeit über die eigene Zukunft frei entscheiden und die Dinge selbst in die Hand nehmen zu können. 

Wenn Leben und Sterben so nah zusammenrücken wie im Jemen lernt man, dass es eben nicht die materiellen Dinge sind, die uns glücklich machen. Woran wir uns erinnern werden, sind menschliche Begegnungen, Erlebnisse, Erfahrungen – das Leben selbst.

Raum für Wunder und Träume 

Und manchmal sollten wir auch ein wenig Abstand von unserer Regeltreue und unseren eingestaubten Definitionen nehmen. Wieder etwas mehr träumen, den Zauber wahrnehmen, den klugen Sätzen unserer Kinder zuhören und sich einmal einen Tag bewusst aus dem starren deutschen Gerüst herausnehmen. 

Ich weiß noch wie ein jemenitischer Kollege mich in den ersten Monaten hier fragte, was wir in Deutschland dazu sagen, wenn Neugeborene lächeln. Ich fing an ihm meine erlernte Definition herunter zu rattern „…ja, das ist ein spontanes Reflexlächeln, unbewusst, nicht zielgerichtet, nicht emotional verknüpft und so weiter.“ Daraufhin lächelte er nur und sagte: „Also wir sagen hier, dass die Engel aus dem Himmel herunterkommen und mit den Neugeborenen spielen – und dann lächeln sie.“ Wie bezaubernd!  Von diesem Tag an musste ich immer daran denken, wenn ein Neugeborenes bei uns auf Station spontan gelächelt hat. Und die Idee von Engeln war viel schöner, als das Wissen um einen spontanen Reflex. 

Als Kinderärztin habe ich gelernt, dass es möglich ist Schmerzen als imaginäre Rakete in den Himmel zu schießen und Wolken wegzupusten, man kann an Wunder in der harten Realität glauben – und man sollte auch.

So schwer es im Jemen manchmal war, wie oft wir uns doch auch geschlagen geben mussten – unsere kleinen Wunder leben.

Sie springen jetzt wieder auf den Feldern herum, sind bei ihren Familien, lachen, atmen, lernen. Der Gedanke an sie hat uns jeden Tag immer wieder neu motiviert. 

Zum Abschied: das alles wird bleiben

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Annette Werner und ihre Kollegin aus dem Krankenhaus in Khamer, Jemen
An manchen Tagen wog die Verantwortung, die auf Annette Werner und ihren jemenitischen Kolleg*innen lastete, so schwer wie ein Stein. Doch die familiäre Zusammenarbeit im Team und unzählige Umarmungen der Mütter auf der Station, halfen.
© MSF

So gingen die sieben Monate im Jemen dann alles andere als ruhig zu Ende. Im Grunde bekam ich noch einmal die volle Breitseite der ganzen Problematik im Jemen zu spüren: Große Armut, ein zusammengebrochenes Gesundheitssystem, schwere Mangelernährung, hohe Kindersterblichkeit und fehlende Bildung. Der Großteil der Bevölkerung ist auf Hilfe angewiesen, doch von dieser ist so oft so wenig da. 

Aber ich habe auch gesehen, was mit der Arbeit von Ärzte ohne Grenzen im Jemen möglich ist. Betrachtet man die länderspezifischen Daten auf der Website von Ärzte ohne Grenzen, ist das wirklich eine ganze Menge: Seit Beginn des Krieges 2015 hat Ärzte ohne Grenzen im Jemen über 132.860 Menschen mit kriegs- oder gewaltbedingten Verletzungen in ihren Einrichtungen versorgt, über 1.110.780 Patient*innen in der Notaufnahme behandelt, mehr als 90.200 chirurgische Eingriffe vorgenommen, bei mehr als 77.900 Geburten Hilfe geleistet und mehr als 41.400 Kinder auf den Kinderstationen therapiert. 

Vieles wird bleiben: Tausende Bilder, Dankbarkeit und Glück.

Sieben Monate ein Teil davon gewesen zu sein macht mich glücklich – und dankbar! Es war herausfordernd, medizinisch wie emotional, aber ich habe auch unglaublich viel zurückbekommen. 

Was wird bleiben? Alles! Tausende von Bildern, Eindrücken und Gefühlen. Das tägliche Lachen mit meinen Kollegen Mohammed und Maged, die Umarmungen von unzähligen Müttern, tote Kinder unter meinen Händen, lachende Kinder kurz vor der Entlassung, das Familienleben mit den jemenitischen Kolleg*innen, die unzählbaren Essenseinladungen, der tägliche Morgenspaziergang zur Klinik – Dreck, Staub, Lärm und gleichzeitig Genügsamkeit, Dankbarkeit und Glück. Das wird bleiben. All das. Der Jemen!