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Ein Hoch auf die Hühnerknochen

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Annette Werner bei einem Einsatz im Jemen als Kinderärztin

Annette Werner

Ich bin Kinderärztin und war in meinem Einsatz für Ärzte ohne Grenzen im Jemen. Dort betreute ich Projekte – eines davon in Haydan, einem Bergdorf im Nordjemen.
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Annette Werner mit jemenitischem Mann
Auf dem Weg ins Krankenhaus begegne ich vielen Bekannten.
© privat

Haydan ist mein Herz! Hier habe ich ein Zuhause gefunden - menschlich und landschaftlich. In einem Kinderbuch wäre Haydan das Land der Ferne. Wir leben in einem kleinen Bergdorf auf 2.100 Metern Höhe und sind umgeben von 3.000 Meter hohen Bergen. Wenn ich morgens zum Krankenhaus laufe, höre ich Vögel singen und Hähne krähen.

Vor ein paar Tagen lag auf dem Feldweg hinter unserem Haus eine große tote Schlange und ich war doch erleichtert, dass sie tot war. Schlangenbisse sind hier nichts Seltenes. An diesem Morgen trabte ein schneeweißer Esel auf mich zu, während am Wegrand eine Frau ihre Schafe auf die Bergwiesen trieb. Im Arm hielt sie ein Lamm, dass gerade erst geboren sein musste und noch nicht mit der Herde Schritt halten konnte. Auf diesem Morgenspaziergang ins Krankenhaus treffe ich immer viele Bekannte aus dem Dorf - Kinder, Pfleger*innen, Arzthelfer*innen, Ärzt*innen.

Ich bin hier die einzige Kinderärztin und in Dauerbereitschaft für alle acht jemenitischen Allgemeinmediziner*innen, die im Wechselschichtbetrieb arbeiten. Neulich weckte mich ein Arzt um fünf Uhr morgens: „Annette, wir haben hier einen stark mangelernährten Säugling und sie ist im Schock. Du musst sofort kommen!“ Also habe ich mich schnell angezogen, unseren Fahrer geweckt und mir in den zwei Minuten im Auto auf dem Weg ins Krankenhaus nochmal die Handlungsschritte zur Schockbehandlung bei schwerster Mangelernährung ins Gedächtnis gerufen, die anders sind als bei einem ausreichend genährten Kind.

Ich rannte in die Notaufnahme - Wahnsinn, wie man so schnell so wach sein kann und voll aufnahmefähig ist, wenn man es sein muss.

Als ich in die Notaufnahme kam, saß die Mutter des Kindes vor einer Liege auf dem Boden und vergrub ihren Kopf in den Händen. Der Vater stand völlig verängstigt neben seiner Tochter. Ein Arzt und zwei Pfleger versuchten dem Mädchen einen intravenösen Zugang zu legen. Die Kleine wog mit 6 Monaten nur 2,7 Kilogramm und war wegen anhaltendem Durchfall im Schock. Die Haut war eiskalt, der Kreislauf komplett zusammengebrochen und ihre Augen waren eingefallen. 

Für die Schocktherapie hätte ich intravenös Flüssigkeit zuführen müssen, um den Kreislauf zu stabilisieren. Aber weil die Venen wegen des Schocks nicht mehr mit Blut gefüllt waren, bekam ich keinen Zugang hinein. Zum Glück hatten sie noch einen Knochenbohrer in der Notaufnahme, das war die letzte Möglichkeit. Ich hatte in Simulationstrainings dutzende Nadeln in Hühnerknochen oder Gummibeine gebohrt - aber eben noch nie im Ernstfall und schon gar nicht bei einem Mädchen, dessen Unterschenkel kaum dicker waren als mein Daumen. Die Gefahr, den Knochen zu durchbohren war groß. 

Doch alles ging gut und wir starteten die Schocktherapie über die Knochennadel und stabilisierten das Mädchen. Mir wurde bewusst, wie wichtig es ist, solche Situationen immer wieder zu üben. Man kann das ein bisschen mit einem Fahrsicherheitstraining vergleichen. Wenn man es immer und immer wiederholt und trainiert, kann man es schließlich in der Extremsituation abrufen. Nie hätte ich gedacht, dass das Training an einem Hühnerknochen oder Gummibein mir mal so helfen könnte. Nach zwei Wochen stationärer Behandlung entließen wir das Mädchen in gutem Zustand nach Hause. Letzte Woche habe ich sie noch mal gesehen. Sie lacht und feixt mit ihrer Mutter und hat zugenommen - ein Hoch auf die Hühnerknochen!

Emotionale Achterbahnfahrt

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Annette und ihre Kolleg*innen in Schutzkleidung
Manchmal ist die Stimmung ausgelassen, an anderen Tagen ist sie am Boden.
© privat

Die ärztliche Arbeit in Haydan gleicht emotional einer Achterbahnfahrt. Es gibt diese kleinen Wunder, bei denen man entgegen aller Erwartungen das Ruder nochmal rumreißen kann und die Familie mit ihrem Kind wieder nach Hause geht. Und dann gibt es die Fälle, bei denen man zwölf Tage lang kämpft, therapiert, überlegt, optimiert und schließlich stirbt das Kind. Neulich ist das bei einem Säugling passiert. Der Zusammenhalt der Mütter auf der Station in diesem Moment war riesig. Sie haben die Mutter des Kindes so gut unterstützt.

Einige von ihnen kannten den Schmerz, ein Kind zu verlieren und so war sie damit irgendwie nicht alleine und das war eine sehr bewegende Situation.

Später nahm ich die Mutter in den Arm und dann küsste sie mich ganz oft und wir weinten alle: Mutter, Krankenschwester, die anderen Mütter und ich. An solchen Tagen kann das manchmal sehr hilfreich sein.

Allerdings musste ich hier auch lernen, meine Emotionen zu ordnen. Vor Kurzem kam eine Familie mit ihrem 20 Tage alten Säugling in die Notaufnahme. Das Kind war im septischen Schock, nachdem die Mutter es mehrere Tage mit Ziegenmilch gefüttert hatte. Mich machte das wütend und ich dachte: „Warum macht sie das? Warum bringt sie das Kind in diesen Zustand? Warum müssen wir jetzt Angst haben, dass uns das Kind unter den Händen wegstirbt?“

Und dann fing ich an die ganze Geschichte zu verstehen. Die Familie besaß nichts. Die Mutter war selbst so unterernährt, dass sie nur ein paar Tropfen Milch geben konnte und aus reiner Verzweiflung Ziegenmilch gab, damit ihr Kind nicht verhungert. Auf der Station hat sie sich unglaublich liebevoll um den Kleinen gekümmert und geholfen, dass er wieder gesund wurde. Zwei Wochen war er bei uns und ich habe seine Mutter in der Zeit bei uns sehr schätzen gelernt. 

Ich habe als Ärztin so viele Geschichten gehört, dass ich Bücher damit füllen könnte. Jede ist besonders, jede ist einzigartig, manche ist so traurig, dass es schwer fällt, ihr zuzuhören und manche wiederrum so schön, dass man gemeinsam mit der Familie die Welt umarmen möchte.

Manchmal habe ich das Gefühl, in mir drin ist ein großer bunter Ball voll von diesen Erzählungen und mit jeder Geschichte kommt ein kleines buntes Stück dazu. Dieser Ball ist ein Teil meines Lebens, der mich ausmacht, der mich prägt und meine Sicht auf die Dinge immer wieder verändern kann. Und dafür bin ich sehr, sehr dankbar...

Der Krieg: nah und fern zugleich

Neben all seiner Zauberhaftigkeit ist Haydan aber auch ein Mahnmal für den Krieg. Ich blicke jeden Tag aus dem Stationsfenster auf die zerbombte Schule und laufe an zerbombten Häusern vorbei. Zu Beginn des Krieges wurde Haydan schwer getroffen. Seit vier Jahren ist es aber friedlich in dem kleinen Bergdorf. Gäbe es die zerbombten Gebäude nicht, würde man nicht erahnen, was hier vor wenigen Jahren passiert ist.

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Jemenitische Berglandschaft in Haydan
Man ahnt nur, was hier vor wenigen Jahren passiert ist.
© privat

Allerdings hören wir fast täglich Flugzeuge, die zu Angriffen fliegen, weil die Frontlinie nur 30 Kilometer von uns entfernt ist. Ich sehe sie nie, ich höre nur das Donnern der Jets und weiß, warum sie in der Luft sind. Das fühlt sich surreal an - bis die Verwundeten der Luftangriffe in unsere Notaufnahme kommen. Dann wird es real. 

Ende Mai, an Eid, dem Zuckerfest nach Ramadan, kam unser Wachmann vormittags auf die Station gerannt und sagte, dass ich sofort in die Notaufnahme kommen solle. Vor der Notaufnahme sah ich im Flur auf dem Boden einen toten jungen Mann liegen. Ein Granatsplitter hatte seinen Kopf getroffen. In der Notaufnahme versorgten mehrere Allgemeinmediziner*innen einen Mann mit Brandverletzungen. Seine Haut und seine Kleidung waren von den Granatsplittern durchlöchert, aber sein Zustand war einigermaßen stabil.

Dann kam ein weiteres Auto auf den Hof gerast und es wurde ein Mann ausgeladen, der etwa so alt war wie ich. Von seinem rechten Bein waren quasi nur noch Oberschenkel und Fuß vorhanden. Noch nie hatte ich solche Verletzungen gesehen und ich begriff, was Luftangriffe anrichten können. Während unsere Allgemeinmediziner*innen das Bein stabilisierten und für den Weitertransport in die Unfallchirurgie schienten, presste ich mit der einen Hand Infusionen in den Mann und gab ihm die andere Hand, damit er sich an irgendetwas festhalten konnte. Er hatte unfassbare Schmerzen. Eigentlich würde mir hier nie ein Mann die Hand geben, aber in dieser Situation war er einfach dankbar dafür.

An diesem Tag hatte ein Angriff ein Wohnhaus getroffen. Sechs Menschen wurden getötet. Der junge Mann mit der Beinverletzung hatte wegen Eid seine weiße Festtagskleidung getragen. Er war morgens aufgestanden um sich für die Feier mit der Familie bereit zu machen, als der Angriff kam.

Krieg ist grausam. Ich frage mich wie man sagen kann, dass man einen Krieg gewinnt. Man kann ein Spiel gewinnen, einen Wettlauf. Aber einen Krieg? Ich hoffe so sehr auf einen Waffenstillstand und auf Frieden im Jemen.

Haydan – mein Herz

Neben Krieg und Armut ist auch das Coronavirus vor ein paar Wochen endgültig im Jemen angekommen. Die Zahlen, die man liest, kann man mindestens mit zehn multiplizieren. Wir haben keine Tests, deshalb sind alle Fälle nur "klinisch auffällig" und werden nicht als Covid-19-Fälle registriert. Besonders in den Großstädten wie Aden oder Sanaa gibt es viele Todesfälle. In Haydan sind bis jetzt die schweren Fälle ausgeblieben, aber wir haben sehr viele klinisch auffällige Fälle. Zwei meiner Kolleg*innen und ich waren die letzten Wochen auch betroffen. Zum Glück aber ohne schwere Symptome, mittlerweile sind wir alle wieder gesund.

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Annette Werner auf einem Gruppenfoto mit ihren Kolleg*innen im Jemen
Meine jemenitischen Kolleg*innen haben mich gut aufgenommen.
© privat

Ich genieße die Zeit mit den jemenitischen Kolleg*innen sehr. Ich weiß gar nicht, wie oft ich schon zum Essen eingeladen wurde. Die Krankenschwestern bemalen meine Arme mit Henna und schenken mir Schmuck. Ich spiele mit ihren Kindern und sie zeigen mir Fotos von ihren Familien und Hochzeiten. Wir sitzen zusammen, lachen, erzählen, essen und trinken und sind einfach ganz in diesem Moment - und dann ist Haydan wieder diese Zauberwelt, das Land der Ferne, in dem ich ewig bleiben könnte...