Direkt zum Inhalt

Gaza: Ärzt*innen können einen Genozid nicht stoppen - Regierungen schon. 

Image
Christopher Lockyear - MSF Secretary General

Christopher Lockyear

Als Generalsekretär von Ärzte ohne Grenzen setze ich mich seit 2018 dafür ein, dass Menschen in Krisenregionen medizinische Hilfe erhalten und die humanitäre Lage weltweit sichtbar bleibt.

Mehr als eine Millionen Menschen in Gaza erleben erneut brutale Gewalt. Vor einer groß angelegten Bodenoffensive hat die israelische Armee einen Vertreibungsbefehl für Gaza-Stadt erteilt. Für viele – wie z. B. ältere Menschen, Schwerstkranke, Hochschwangere oder Verwundete – ist eine Flucht jedoch unmöglich. Zu bleiben kommt für sie einem Todesurteil gleich.

Menschen, die versuchen zu fliehen, werden dies unter immer heftigeren Bombardierungen tun. Diejenigen, die die Reise überleben, werden überfüllte Gebiete im mittleren und südlichen Gazastreifen erreichen, wo sie weder Sicherheit noch das Nötigste zum Überleben finden werden. Eine Bevölkerung, die durch fast zwei Jahre extremer Brutalität an den Rand des Abgrunds gedrängt wurde, steht wieder vor einer Katastrophe.

Eine menschengemachte Katastrophe mit System

Was in Gaza geschieht, ist nicht nur eine humanitäre Katastrophe, sondern die systematische Vernichtung eines Volkes. Für uns bei Ärzte ohne Grenzen ist klar: Die israelische Regierung begeht im Gazastreifen einen Genozid an den Palästinenser*innen – und bleibt dabei bisher völlig straffrei.

Die Zahl der Todesopfer ist erschütternd. Nach den jüngsten Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums wurden bisher mehr als 65.000 Menschen getötet und mehr als 165.000 Menschen verletzt (OCHA, 18.09.2025). Die tatsächliche Zahl der Getöteten dürfte höher sein, da noch viele Menschen noch unter den Trümmern von Krankenhäusern, Schulen und Wohnhäusern begraben sind.

Es gibt keinen sicheren Ort im Gazastreifen. 

Ganze Familien werden in ihren Häusern ausgelöscht. Gesundheitspersonal wird bei der Versorgung von Patient*innen getötet. Journalist*innen werden wegen ihrer Berichterstattung gezielt angegriffen. Das israelische Militär unterscheidet im Gazastreifen nicht in seinen Angriffen.

Für offene Schlachtfelder entwickelte Waffen – einige davon verkauften die US- und europäische Regierungen an Israel – werden in dicht besiedelten städtischen Gebieten eingesetzt, wo Menschen in Zelten Zuflucht suchen. Wir behandeln verheerende Verletzungen, die durch diese Waffen verursacht werden.

Gesundheitssystem und humanitäre Helfer*innen werden angegriffen

Die israelische Regierung hat das Gesundheitssystem im Gazastreifen systematisch zerstört – durch Bombardierungen von Krankenhäusern, Angriffe auf medizinische Einrichtungen und die Gefährdung von Mitarbeiter*innen und Patient*innen. Dieses Vorgehen könnte ein Kriegsverbrechen darstellen. Die wenigen noch verbliebenen Krankenhäuser sind überlastet und unterversorgt. Patient*innen leiden und sterben grundlos.

Dreizehn unserer Kolleg*innen wurden bis dato getötet. Ein weiterer Kollege, der orthopädische Chirurg Dr. Mohammed Obeid, wird seit Oktober 2024 von Israel gefangen gehalten. Insgesamt wurden bisher mehr als 1.500 Mitarbeitende des Gesundheitswesens getötet. Jede*r einzelne von ihnen ist ein schwerer Verlust – für die Familien und für das überlastete Gesundheitssystem im Gazastreifen.

Humanitäre Hilfe wird im Gazastreifen als Waffe missbraucht

Die  genozidale Gewalt geht aber über direkte Angriffe hinaus. Die israelischen Behörden haben den Gazastreifen bewusst abgeriegelt und eine Blockade verhängt, durch die die Versorgung mit Treibstoff, Wasser, Lebensmitteln und medizinischen Gütern enorm eingeschränkt ist. Diese Politik der kollektiven Bestrafung, einschließlich gezielter Aushungerung, hat ihr brutales Ziel erreicht: die Bevölkerung hungert, in Teilen des Gazastreifens wurde gar eine Hungersnot erklärt. Eine kürzlich durchgeführte Erhebung in unseren Einrichtungen in Gaza ergab, dass 25% der schwangeren oder stillenden Frauen mangelernährt sind, was das Risiko für Totgeburten, Fehlgeburten und Frühgeburten erhöhen kann.

Die begrenzte Nahrungsmittelhilfe vor Ort wird zynisch als Waffe eingesetzt. Die israelisch geführte und von den USA finanzierte absolut desaströse Verteilung von Hilfsgütern hat zum Tod von 1.400 Menschen und 4.000 Verletzte geführt. Wir haben Kinder behandelt, die beim Versuch, sich Nahrung zu beschaffen, in die Brust geschossen wurden, sowie Menschen, die in Massenpaniken erdrückt oder erstickt wurden. Dieses Ausmaß an Brutalität ist unerträglich.

Die absichtliche Verknappung von Wasser begünstigt Krankheiten: Im vergangenen Monat behandelten unsere Teams 4.000 Menschen wegen wässrigem Durchfall, der insbesondere für mangelernährte Kinder schnell tödlich sein kann. Wir könnten die Versorgung mit sauberem Trinkwasser ausweiten, werden jedoch regelmäßig daran gehindert.

Auch im Westjordanland besteht das Risiko einer ethnischen Säuberung: Unterdessen nimmt die Gewalt gegenüber der palästinensischen Bevölkerung durch Siedler*innen und das israelische Militär im besetzten Westjordanland zu. Es kommt vermehrt zu Landraub, Zwangsumsiedlungen und Angriffen auf Gemeinden. Als dies ist Teil einer Politik, die darauf abzielt, die demografische Zusammensetzung des Westjordanlands zu verändern.

Nichts tun ist auch eine Entscheidung 

Die Angriffe der Hamas im Oktober 2023 waren schrecklich – wir verurteilen auch diese Gräueltaten zutiefst. Alle noch verbleibenden Geiseln im Gazastreifen müssen ebenso wie die willkürlich inhaftierten Palästinenser*innen in Israel nach Hause zurückkehren dürfen.

Gleichzeitig machen sich Regierungen auf der ganzen Welt mitschuldig an diesem Genozid, wenn sie die israelische Regierung politisch, militärisch oder materiell in ihrer Kampagne unterstützen -- oder indem sie schweigen. Sie haben eine moralische und rechtliche Verpflichtung, zu handeln. Das bedeutet: echten politischen Druck anstatt leerer Worte, und den Einsatz aller verfügbaren politischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Mittel, um dieses Grauen zu beenden. 

Die Regierungen der Länder der Welt müssen dringend einen Waffenstillstand erreichen und dafür sorgen, dass die Blockade aufgehoben wird. Sie müssen sicherstellen, dass die israelischen Behörden die sofortige und ungehinderte Lieferung umfangreicher und unabhängiger humanitärer Hilfe ermöglichen. Medizinische Einrichtungen und Gesundheitspersonal müssen geschützt werden. Die Vertreibungsbefehle und die massenhafte Zwangsumsiedlung von Menschen müssen aufhören.

Die Grenzen müssen geöffnet werden, um die Evakuierung von Menschen, die das Gebiet verlassen wollen, und von Patient*innen, die dringend eine fachärztliche Behandlung benötigen, zu ermöglichen. Regierungen müssen diese lebensrettenden Maßnahmen aktiv unterstützen – ebenso wie das Recht der Menschen auf eine Rückkehr, wenn die Bedingungen das sicher zulassen.

Ärzt*innen können einen Genozid nicht verhindern – Regierungen schon

Länder, die ihre Empörung und Solidarität mit den Palästinenser*innen zum Ausdruck gebracht haben, können und müssen mehr tun, um den politischen Druck auf andere zu erhöhen, zu handeln. Dazu gehört auch, darauf hinzuwirken, dass alle Länder die Lieferung von Waffen einstellen, die dazu dienen, Zivilist*innen zu töten und zu verletzen und die zivile Infrastruktur in Gaza zu zerstören.

Jeden Tag sehen sich unsere 1.118 Kollegen*innen, die in Gaza arbeiten, mit der verheerenden Realität konfrontiert, dass sie einen Genozid nicht verhindern können. Aber die Staats- und Regierungschef*innen der Welt können dies, wenn sie handeln.

Zwei Jahre nach Beginn dieser unerbittlichen und extremen Phase der Gewalt sind die dazu notwendigen politischen Entscheidungen längst überfällig.