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Südsudan: Mit Hilfe von KI Schlangen schneller identifizieren

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Portrait Gabriel Alcoba

Dr. Gabriel Alcoba

Ich bin Arzt und berate bei Ärzte ohne Grenzen zu Schlangenbissen und vernachlässigten Tropenkrankheiten

Ich erinnere mich noch an eine Zeit, als wir in den Krankenhäusern von Ärzte ohne Grenzen Fotoalben benutzten, um Schlangen zu identifizieren. Das medizinische Personal blätterte durch die Bilder, um herauszufinden, welche Schlange eine*n Patient*in gebissen hatte.

Inzwischen gibt es schnellere und zuverlässigere Methoden, die neuste Technologien verwenden: Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen. Expert*innen der Universität Genf und von Ärzte ohne Grenzen haben eine Datenbank mit rund 380.000 Fotos von Schlangen aus verschiedenen Ländern erstellt und entwickeln diese ständig weiter. Die dazugehörige App erleichtert mithilfe von künstlicher Intelligenz die Identifizierung von Schlangenarten und liefert damit essenzielle Hinweise für die richtige Behandlung. Die App kann etwa 20 Schlangenarten genau identifizieren, die meisten der ca. 500 Fälle von Schlangenbissen, die wir zum Beispiel im Südsudan behandeln, werden von diesen Schlangenarten verursacht.

Innovation im Einsatz

Im Südsudan erproben wir die Identifikation von Schlangen mittels KI derzeit in zwei unserer Krankenhäuser - in den Städten Twic und Abyei. Die ersten Ergebnisse sind vielversprechend: Die KI identifiziert Schlangen manchmal sogar besser als Expert*innen!  

Mein Kollege Noon Makor, Leiter des Teams für Gesundheitsförderung in Abyei, berichtet: 

Der Einsatz der App im Projekt hilft nicht nur bei der Identifizierung von Schlangen, sondern erleichtert dem medizinischen Team auch die Entscheidung über die Behandlung von Patient*innen. Sie kann zum Beispiel zwischen giftigen Schlangen wie der Ägyptischen Kobra oder der Schwarzen Mamba und harmlosen Schlangen wie der afrikanischen Hausschlange unterscheiden. Das hilft enorm, die Verschwendung wertvoller Gegengifte zu reduzieren. Oft erhalten Patient*innen die falsche Behandlung, weil die Schlange nicht richtig identifiziert wurde, oder es wird wertvolles Gegengift für Bisse von nicht giftigen Schlangen verschwendet, was schwere Nebenwirkungen verursachen kann. 

Im Südsudan gibt es kaum ökologische Studien über Schlangen, aber eine hohe Anzahl von Schlangenbissen, insbesondere zwischen Mai und Oktober. Im vergangenen Jahr haben wir in den beiden Krankenhäusern in Twic und Abyei 481 Menschen aufgrund eines giftigen Schlangenbisses behandelt. 

Teil des Projekts ist auch die Aufklärung über Schlangenbisse. Dazu nutzt das Team Radiospots und Informationsveranstaltungen für die betroffenen Gemeinden und organisiert interdisziplinäre Workshops für Gesundheitspersonal. „Dadurch verbessert sich das Wissen über Ökologie, Kartierung und die Vielfalt der Schlangenarten in den Dörfern und die Menschen lernen, wie sie bei einem Schlangenbiss schnell und richtig reagieren können“, berichtet Noon Makor. „Das sehen wir zum Beispiel daran, dass mehr Menschen zu uns kommen, um einen Schlangenbiss behandeln zu lassen.  

Die weiten Entfernungen zu den Krankenhäusern stellen nach wie vor eine Herausforderung dar. Nach einem Schlangenbiss muss man schnell behandelt werden, doch wenn das nächste Krankenhaus weit entfernt ist und kein Transportmittel zur Verfügung steht, kann das problematisch sein. 

„Im Vergleich zu den Vorjahren sehen wir jedoch eine Verbesserung. Die Menschen wissen besser, was zu tun ist und wo sie sich behandeln lassen können. Unsere Arbeit zeigt also Wirkung. Es gibt auch eine Art Botschafter-Effekt: Die von uns behandelten Patient*innen kehren in ihre Gemeinden zurück, berichten und tragen aktiv dazu bei, das Wissen über Schlangenbisse zu verbessern und die Menschen rechtzeitig behandeln zu lassen“, so Makor. 

Herausforderung 1: Die Schlange richtig erkennen

Damit die KI eine bestimmte Schlange identifizieren kann, benötigen wir ein Foto der Schlange, die die Patient*in gebissen hat. In der Realität sieht das so aus: Die Person, die gebissen wurde oder jemand in der Nähe versucht mit äußerster Vorsicht ein Foto der Schlange zu machen. Ist das nicht möglich, gehen unsere Mitarbeiter*innen zuweilen zum Ort des Bisses zurück und versuchen die Schlange zu finden und zu fotografieren. Sobald wir ein Foto haben, wird es in die App hochgeladen, die es mit Tausenden von Bildern vergleicht, um die Schlange zu identifizieren. Gleichzeitig wird das Bild als neuer Eintrag mit GPS-Koordinaten der Datenbank hinzugefügt.

Wir arbeiten derzeit daran, hochwertige Fotos zu sammeln, die in diese Software einfließen sollen. Mit Fotos in besserer Qualität, finanziellen Mitteln und weiterer Forschung könnte diese Schlangen-KI-App dazu beitragen, dass Patient*innen schneller und richtig behandelt werden - sie könnte Gliedmaßen und Leben retten.

Das gemeinnützige Projekt SNAICS-Projekt (Snakebite Awareness and AI Identification in Communities) zielt zusammen mit der AI Snake App darauf ab, unser Verständnis für die verschiedenen Schlangenarten zu verbessern und die Versorgung mit Gegengift zu optimieren, um effektive klinische Reaktionen zu gewährleisten.

Herausforderung 2: Das richtige Gegengift zur Hand haben

Schätzungen der WHO zufolge werden 5,4 Millionen Menschen von Schlangen gebissen, wobei es in 1,8 bis 2,7 Millionen Fällen zu Vergiftungen kommt. Etwa 137.880 Menschen sterben jedes Jahr an den Folgen von Schlangenbissen, und etwa dreimal so viele Menschen verlieren aufgrund eines Schlangenbisses Gliedmaßen oder tragen andere dauerhafte Behinderungen davon.

Die Identifikation der Schlange ist ein unheimlich wichtiger Schritt, allerdings nicht die einzige Herausforderung, der wir uns in der Behandlung von Schlangenbissen stellen müssen. Obwohl Millionen Menschen weltweit von Schlangenbissen betroffen sind, wird sehr wenig zu Gegengiften geforscht und es werden zu wenig bezahlbare Gegengifte produziert. Im Südsudan zum Beispiel kann eine Dosis Gegengift eine Patient*in zwischen einem Monats- und einem Jahresgehalt kosten.

Deshalb ist die Vergiftung durch einen Schlangenbiss von der Weltgesundheitsorganisation als sogenannte vernachlässigte Tropenkrankheit eingestuft. Besonders betroffen von Schlangenbissen sind Menschen in abgelegenen, ländlichen oder überschwemmten sowie in Konfliktgebieten in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Es existiert also kein lukrativer Markt für Medizinprodukte. 

Biomedizinische Forschung und Entwicklung muss sich an Gesundheitsbedürfnissen orientieren, nicht am Profitpotenzial: Es braucht mehr finanzielle Mittel und politisches Engagement zur Bekämpfung der vernachlässigten Tropenkrankheiten. Die Entwicklung neuer Gegengifte und die Weiterentwicklung innovativer Ansätze wie die Identifizierung von Schlangen mithilfe von KI sind eines von vielen Beispielen.

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Ergänzend zur Projektarbeit, setzt sich Ärzte ohne Grenzen auch gemeinsam mit anderen humanitären Akteuren im Rahmen des Memento-Bündnisses dafür ein, dass sich Forschung und Entwicklung an Gesundheitsbedürfnissen orientieren und nicht am Profit.