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“Für ihr Vertrauen in mich werde ich für immer dankbar sein.”

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Marie-Anne Henry

Ich bin Hebamme und Expertin für den Umgang mit Überlebenden sexualisierter Gewalt. Mit Ärzte ohne Grenzen arbeite ich seit 2015 - zuletzt auf unserem Such- und Rettungsschiff Geo Barents im zentralen Mittelmeer.

Bei meinem aktuellen Einsatz an Bord der Geo Barents, unserem Such- und Rettungsschiff im zentralen Mittelmeer, haben wir 111 Menschen gerettet, sie saßen in aus Holz- und anderen kleinen Booten. Unter ihnen waren auch drei Schwangere und sieben Kinder. 

Ein emotionales Wiedersehen 

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Eine Hebamme untersucht eine schwangere Frau, die bei einer Rettungaktion der Geo Barents an Board kam
Unsere Hebamme Marie-Anne Henry untersucht eine Schwangere an Bord der Geo Barents.
© Anna Pantelia/MSF

Eine der Frauen war bereits im achten Monat schwanger. Nennen wir sie Zola. Ich werde nie vergessen, wie sie, die nur knapp vor dem Ertrinken gerettet wurde, auf unserem Schiff ankam. Noch außer Atem, aber voller Dankbarkeit, nahm sie meine Hand und sagte: "Danke Gott und danke Ihnen". Sie trug mehrere Schichten Kleidung, mindestens vier Hosen und fünf Oberteile zusätzlich zu ihrem Mantel, und alles war mit Salzwasser vollgesogen. Mit all dem Gewicht war es für sie unmöglich gewesen zu schwimmen. 

Glücklicherweise hat Zola an Bord keine geburtshilflichen Komplikationen entwickelt. Trotz der sehr schwierigen Umstände, die zu ihrer Schwangerschaft geführt haben – sie hat sexualisierte Gewalt erfahren, war ihr das Wohl ihres Babys wichtiger als alles andere. Und sie hat es geschafft: Sie wird es in einem sicheren medizinischen Umfeld in Europa zur Welt bringen.  

Ich weiß, dass dieses Baby stolz auf seine Mutter sein kann, denn sie hat alles getan, um ihm die Chance zu geben, an einem sicheren Ort zu leben. 

Als sie sich zu den anderen Frauen und Kindern auf der Brücke der Geo Barents gesellte, wurde es sehr emotional. Sie sah eine Frau aus ihrem Herkunftsland wieder, mit der sie gemeinsam die Sahara durchquert hatte. Unterwegs, während ihres "Abenteuers", wie sie es ironisch nannte, hatten sie sich aus den Augen verloren. Sie umarmten sich so oft, als würden sie sich nie wieder trennen wollen. Ich war tief berührt. 

Zusammenhalten und einander unterstützen 

Die meisten der geretteten Frauen kamen aus der Elfenbeinküste, Kamerun und Guinea (Republik), und sie schlossen sich angesichts der neuen Herausforderung schnell zusammen. Ich konnte sehen, dass sie sich gegenseitig immer unterstützt haben. 

Schnell wurde eine von ihnen zu einer Art Anführerin der Gemeinschaft. Trotz ihrer eigenen prekären Situation verwendete sie ihre ganze Kraft darauf, für die anderen Frauen zu übersetzen oder junge alleinstehende Mütter mit Babys oder kleinen Kindern mit Behinderungen zu unterstützen. 

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Ein Baby wird von einem kleinen Boot an Board der Geo Barents gerettet
Bei vielen Rettungen sind Babys und kleine Kinder mit auf den überfüllten kleinen Botten.
© Anna Pantelia/MSF

Bei diesem Einsatz war auch die Zahl der Säuglinge relativ hoch: zwei Neugeborene und ein 18 Monate altes Baby, die alle in Libyen in einem Internierungslager geboren worden waren. Sie waren bisher weder medizinisch betreut worden, noch hatten sie erste Impfungen erhalten.  

Es gab auch ein Mädchen mit Autismus, noch keine 10 Jahre alt, das nicht sprechen konnte. Ihre Mutter war entschlossen, trotz aller Widrigkeiten aus ihrem Heimatland zu fliehen. Sie wollte ihrer Tochter die Chance auf eine medizinische Untersuchung und eine ihrer Behinderung angepasste medizinisch-psychologische Betreuung bieten.  

Ihr Traum war es, dass ihre Tochter eines Tages sprechen und kommunizieren kann. 

Ich möchte dazu beitragen, dass ihre Geschichten gehört werden 

Ich arbeite seit 2015 mit Ärzte ohne Grenzen zusammen und habe seitdem in mehreren Einsätzen insbesondere zum Thema sexualisierte Gewalt gearbeitet. Die Lebensgeschichten dieser Frauen an Bord der Geo Barents und die Erlebnisse, die sie mir während den Untersuchungen anvertraut haben, übersteigen jedes menschliche Vorstellungsvermögen. 

Sie erzählten von Zwangsheiraten, vor denen sie geflohen waren, von geschlechtsspezifischen Praktiken wie Beschneidung und Verstümmelung (gegenüber ihnen selbst oder ihren Töchtern) oder sexueller Sklaverei.  

Zusätzlich erlebten viele Frauen und Mädchen auf ihrer Flucht schwere sexualisierte Gewalt. Die meisten Übergriffe geschahen entweder während der Reise durch die Wüste Sahara oder in libyschen Internierungslagern. Die aus diesen Vergewaltigungen resultierenden Schwangerschaften stellen ein zusätzliches Risiko für das Leben dieser Frauen auf der Flucht dar. 

Ich erinnere mich an eine Frau, die allein mit ihren beiden Töchtern reiste und in weniger als 24 Stunden zweimal vergewaltigt wurde. Ihre Tränen kamen erst am Ende unserer medizinischen Beratung, als sie mir gestand, dass das Schlimmste an dieser ganzen schrecklichen Geschichte war, die Vergewaltigung ihrer autistischen Tochter mitzuerleben.  

Viele der Frauen und Mädchen, die über das Mittelmeer geflohen sind, brauchen dringend Schutz, wenn sie in Europa an Land gehen. 

Jedes Zeugnis dieser Frauen, jedes ihrer Gesichter ist in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich werde für immer dankbar sein für ihr Vertrauen in mich. Ihre Würde im Angesicht dessen, was sie durchgemacht haben, hat mich tief beeindruckt. Sie verdienen es, dass ihre Geschichten gehört werden, und ich hoffe, dass ich mit meinem Bericht dazu beitragen kann.