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Härte heißt Gewalt: Wie die Migrationswende die Auslagerung von Verantwortung vorantreibt

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Porträt Felix Braunsdorf

Felix Braunsdorf

Ich bin Experte für Flucht und Migration und arbeite in der politischen Abteilung von Ärzte ohne Grenzen.

Seit rund einem Jahrzehnt setzt die EU in der Migrationspolitik verstärkt auf Auslagerung und Abschottung statt auf Schutz und Menschlichkeit. Die Bundesregierung will dabei vorangehen und spricht von einer Migrationswende, auch auf europäischer Ebene, die „härter“ und „schärfer“ werden soll. Dass damit mehr Gewalt gegen Menschen auf der Flucht einhergeht, wird verschwiegen. Ärzte ohne Grenzen behandelt in und um Europa Menschen, die durch diese Politik gesundheitliche Schäden erleiden. Unsere Teams sehen aus erster Hand, welches Leid die ausgelagerte Abschreckung Europas verursacht. 

Mit der Verlängerung des Mandats der EU-Marinemission EUNAVFOR MED IRINI am 13. November lagert Deutschland weiter Verantwortung an libysche Einrichtungen aus. Das neue Mandat erlaubt der Bundesregierung, sich an der Ausbildung der libyschen Küstenwache zu beteiligen – also jener Akteure, die immer wieder in gewaltsame Abfangaktionen auf dem Mittelmeer und Rückführungen in libysche Internierungslager verwickelt sind. Bisher hatte man eine solche Unterstützung im Mandat ausgeschlossen. Künftig könnte sich das ändern, auch wenn die Bundesregierung beteuert, dass derzeit „keine Planungen zur Wahrnehmung der Kapazitätsaufbau- und Schulungsaufgabe durch die Bundeswehr" bestehen. Wer die libysche Küstenwache stärkt, trägt Mitverantwortung für völkerrechtswidrige Abfangaktionen und Rückführungen nach Libyen und setzt Geflüchtete Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus. Daran darf sich Deutschland nicht beteiligen. 

Die Folgen einer Politik der Auslagerung 

Welche Konsequenzen diese Auslagerungspolitik seit über einem Jahrzehnt hat, zeigt ein aktueller Bericht von Ärzte ohne Grenzen. Die Zusammenarbeit der EU mit Drittstaaten wie Libyen, Tunesien oder Niger hat Fluchtrouten länger und gefährlicher gemacht. Menschen auf der Flucht werden an Orten festgehalten, in denen Gewalt, Ausbeutung und willkürliche Inhaftierung alltäglich sind. Während die Zahl der Ankünfte in Europa zeitweise zurückging, ist der Preis dafür dramatisch hoch: Mehr als 27.000 Menschen sind zwischen 2015 und 2025 im Mittelmeer ertrunken oder werden vermisst, die meisten davon auf der zentralen Route zwischen Libyen, Tunesien und Italien. Die Zahl der Abfangaktionen durch die libysche Küstenwache ist deutlich gestiegen. Mittlerweile endet rund jede dritte Flucht über das zentrale Mittelmeer durch ihr Eingreifen. Gleichzeitig floriert in Libyen das grausame Geschäft mit der Ausbeutung – und wird durch europäische Unterstützung indirekt mitgetragen. Es ist Teil der Abschreckungspolitik.  

Die Teams von Ärzte ohne Grenzen erleben die Folgen dieser Politik täglich in Projekten entlang der Fluchtrouten und in europäischen Ankunftsländern: körperliche und psychische Verletzungen, Traumatisierung und Perspektivlosigkeit angesichts der schwindenden Möglichkeiten, in Europa Schutz und eine bessere Zukunft suchen. 

Libyen – Zentrum der Abschreckungspolitik 

Deutschland und andere europäischen Staaten setzen alles daran, die Zahl von Schutzsuchenden in Europa zu drücken und schließen dafür Deals mit Staaten rund um Europa ab.    

Libyen, das Hauptausgangsland vieler Boote, ist zum Dreh- und Angelpunkt der EU-Abschreckungspolitik geworden. Seit dem Deal zwischen Italien und Libyen 2017 wurden zehntausende Menschen auf See abgefangen und nach Libyen zurückgebracht – oft in willkürliche Haft unter Bedingungen, die von Gewalt, Erpressung und Zwangsarbeit geprägt sind.  

Ärzte ohne Grenzen hat in den vergangenen Jahren hunderte Geschichten von Menschen dokumentiert, die in Libyen körperliche und psychische Misshandlung, Erniedrigung und sexualisierte Gewalt erlebt haben. 

Diese Missstände sind lange bekannt. Auch die EU stuft laut eigenen internen Dokumenten das Risiko als hoch ein, dass EU-Mittel in Nordafrika an Akteure fließen, die Menschenrechtsverletzungen begehen. Die Vereinten Nationen warnen, dass die europäische Unterstützung für die libysche Küstenwache "die Verübung von Verbrechen, einschließlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ begünstigt. Trotzdem wurde das Abkommen zwischen Italien und Libyen Anfang November 2025 automatisch verlängert. Nun hält sich auch Deutschland offen, künftig an der Ausbildung der libyschen Küstenwache im Rahmen der EU-Mission IRINI mitzuwirken.  

Tunesien und Niger – Unterstützung mit fatalen Folgen 

Das EU-Tunesien-Abkommen von 2023 wurde geschlossen, während rassistische Gewalt und Übergriffe gegen Menschen aus Subsahara-Afrika im Land eskalierten. Teilweise kam es zu kollektiven Ausweisungen in die Wüste nach Libyen; viele setzten sich aufgrund der Gewalt erst überhaupt in ein Boot Richtung Europa. Trotzdem oder gerade deswegen fließen europäische Mittel in Programme, die die tunesische Grenzpolizei und Küstenwache stärken sollen. Auch Deutschland unterstützt den Aufbau von Kapazitäten im Bereich des Grenzmanagements und der Koordination auf See.  

Im Niger wiederum hat das auf europäischen Druck eingeführte Gesetz gegen Menschenschmuggel die Lebensgrundlagen für Menschen im Transportgeschäft zerstört. Es traf nicht kriminelle Netzwerke, sondern Menschen und Familien, die vom legalen Transport von Migrant*innen lebten. Die daraus resultierende Instabilität trug zum Sturz der Regierung im Jahr 2023 bei. Die neuen Machthaber haben das Gesetz inzwischen wieder aufgehoben. 

Forderungen von Ärzte ohne Grenzen 

Ärzte ohne Grenzen fordert, bestehende Migrationsabkommen der EU mit Drittstaaten auf den Prüfstand zu stellen und auszusetzen, wenn sie zu Gewalt, Ausbeutung oder der Verweigerung von Schutz führen.  

Neue Abkommen müssen strikt an die Einhaltung der Menschenrechte, des humanitären Völkerrechts und des Flüchtlingsrechts geknüpft sein. 

Darüber hinaus braucht es unabhängige, transparente und dauerhaft finanzierte Monitoring-Mechanismen, die dokumentieren, wie sich diese Kooperationen auf den Schutz und die Gesundheit von Menschen auf der Flucht auswirken und Beschwerdemöglichkeiten bereitstellen.  

Die EU und Deutschland müssen ihre Migration neu ausrichten – weg von Migrationsabwehr und Grenzkontrollen, hin zu einer Politik, die den Schutz von Menschen, einen langfristigen Frieden und den Aufbau funktionierender staatlicher Strukturen in den Mittelpunkt stellt. Zudem müssen sichere und legale Zugangswege deutlich ausgeweitet werden – insbesondere für Migrant*innen, die in Libyen feststecken. Menschen, die in den libyschen Inhaftierungslagern unmittelbarer Lebensgefahr ausgesetzt sind, brauchen dringend Zugang zu sicheren und legalen Wegen aus dem Land.