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Warten und Leiden: Asylbewerber*innen an der nördlichen Grenze Mexikos

Seit sechs Monaten leben mindestens 2.000 Menschen - überwiegend aus Honduras, Guatemala und El Salvador - in einem behelfsmäßigen Camp auf dem Plaza de La Republica – dem Platz der Republik – in Reynosa, einer Stadt an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten. Die meisten von ihnen wurden von den USA nach Mexiko abgeschoben. In dem Camp herrschen katastrophale Bedingungen, die Menschen haben nur begrenzt Zugang zur Grundversorgung und sind einem erhöhten Risiko durch Gewalt ausgesetzt.  

Ein Grund für diese Situation ist eine Verordnung der US-Politik, auch als “Titel 42” bekannt. Sie wurde unter Donald Trump eingeführt und ermächtigt die Behörden dazu, Asybewerber*innen wegen eines angeblichen Gesundheitsrisikos durch Covid-19 an der Grenze abzuweisen.  

Hundert Meter von der Grenze entfernt 

Hallo Liebes, ich bin in Reynosa, sie haben mich nach Mexiko zurückgeschickt, sie haben mich auf der Fahrt erwischt. Ich habe versucht zu fliehen, aber ich bin hingefallen und sie haben mich mit einem Spürhund erwischt. Meine Hand und mein Fuß sind verletzt, aber es ist nichts Ernstes. Ich habe Hunger, ich habe seit gestern nichts mehr getrunken und ich habe kein Geld.

Es ist Freitag, Ende August 2021: Sonia* ist gerade aus den Vereinigten Staaten über eine Brücke abgeschoben worden, die das amerikanische Hidalgo mit dem mexikanischen Reynosa verbindet. In einem Büro für Migrant*innen telefoniert sie mit einer Bekannten in den USA. Gegenüber dem Büro und nur 100 Meter vom Grenzübergang entfernt befindet sich der Plaza de la Republica: ein Platz, der in den letzten Monaten zu einem Symbol für eine Politik geworden ist, die Migration zu einer humanitären Tragödie werden lässt.

Kein Abstand in der Pandemie möglich 

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Ein Teil des Camps auf dem Plaza de la Republica in Reynosa.
Auf dem Plaza de la Republica gibt es zu wenig sanitäre Anlagen: Mehr als 100 Personen müssen sich eine Toilette teilen.
© MSF/Esteban Montaño

Sonia ist auf ihrer Suche nach einem Leben in Sicherheit nicht allein: Im Camp auf dem Plaza de La Republica leben Frauen und Männer, Mädchen und Jungen, Mitglieder der LGBTQIA*1-Community, ältere Menschen, Gesunde und Kranke zusammen auf unbestimmte Zeit in überfüllten Zelten. Die Menschen haben keine Privatsphäre und können keinen Abstand zueinander halten, was inmitten dieser Pandemie dringend notwendig ist. Es gibt nicht genügend sanitäre Anlagen und wer duschen oder Wäsche waschen will, muss dafür bezahlen. Hinzu kommen in dieser Jahreszeit hohe Temperaturen und nur wenige schattige Plätze, um sich vor der Hitze zu schützen.

Mehrere Organisationen versuchen die Situation für die Menschen erträglicher zu machen und stellen Trinkwasser, Toiletten, Kleidung, Lebensmittel, Matratzen und Zelte sowie Medikamente und ärztliche Beratung zur Verfügung . Auch unsere Teams bieten medizinische und psychologische Unterstützung an.   

Weder die mexikanische noch die US-amerikanische Regierung leisten angemessene Hilfe: Dabei ist ihre restriktive Politik der Grund für die schrecklichen Bedingungen, unter denen die Menschen hier leben. Damit wird auch ihr Recht auf Asyl verletzt.

Anayeli Flores, Leiterin unserer Abteilung für humanitäre Angelegenheiten. 

Ungewissheit  

Das Camp wurde im März errichtet, als die Zahl der Abschiebungen die Kapazität der beiden einzigen Unterkünfte für Migrant*innen in der Stadt überstieg. "Allein im Juli kamen 959 Menschen im Camp an", sagt Mireya*, die bereits seit Juni hier ist und sich die Zahlen in einem Notizbuch notiert. Sie ist mit ihrer Familie vor Drohungen und Erpressungen aus El Salvador geflohen. Als sie in Reynosa ankamen, gab es keinen Platz in den Unterkünften, sodass sie im Camp auf dem Plaza de La Republica Zuflucht suchten.

Hier leben wir zwar in der ständigen Angst, dass uns etwas zustoßen könnte, aber wenn wir nach El Salvador zurückkehren würden, wäre das Risiko noch viel größer.

Mireya*

Die Bewilligung von Asylanträgen - und damit das Schaffen von mehr Plätzen in den Unterkünften - erfolgt langsamer als die Abschiebungen. “Mit einem juristischem Beistand gelingt es einigen, eine Bewilligung zu bekommen. Jedoch nicht so vielen, wie nötig wäre, um die Zahl der Asybewerber*innen in Reynosa zu reduzieren”, sagt Pastor Hector, der seit 17 Jahren das Path of Life Shelter in Reynosa leitet.

Geduldig sein  

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Eine Frau sitzt vor ihrem Zelt im Camp auf dem Plaza de la Republica.
Unsere Teams sorgen sich vor allem um die besonders gefährdeten Menschen im Camp, wie alleinstehende und schwangere Frauen, ältere Menschen, Kinder und Mitglieder der LGBTQIA*-Community.
© MSF/Esteban Montaño

Martin* ist ebenfalls Salvadorianer und vor sechs Tagen in Reynosa angekommen: “Eigentlich wollte ich mein Land nie verlassen. Ich hatte ein eigenes Geschäft und konnte gut für mich sorgen. Doch ich wurde immer wieder diskrminiert und angegriffen, da ich der LGBTQIA*-Gemeinschaft angehöre. Ich hatte keine andere Wahl und nahm all meine Ersparnisse, um zu fliehen."

Die Geschichten von Martin und Mireya sind nur zwei Beispiele für die menschenunwürdige Realität der Migrant*innen, die entlang der nördlichen Grenze Mexikos auf eine Möglichkeit warten, in den USA Asyl zu beantragen. In anderen Grenzstädten wie Tijuana und Acuña sehen wir ähnliche Zustände und Tausende gestrandete Menschen.

Fehlende Unterstützung 

Die Regierung unter Biden hat ihre Versprechen, das Recht auf Asyl zu wahren und die Migrationspolitik der Vorgängerregierung zu überdenken, nicht eingehalten. In den letzten Wochen hat die US-Regierung begonnen, abgeschobene Migrant*innen und Asylbewerber*innen an die südliche Grenze Mexikos zu Guatemala zu fliegen. Am 24. August schlug der Oberste Gerichtshof der USA vor, einem Bundesgerichtsurteil nachzukommen, das die Wiedereinführung des Migrant Protection Protocols (MPP) verlangt: Das MPP zwingt Asylsuchende dazu, außer Landes auf ihre Anhörung zu warten, bevor sie in den USA Schutz finden können. Im Rahmen dieses Programmes wurden unter der Regierung Trumps mehr als 70.000 Migrant*innen in mexikanische Grenzstädte abgeschoben, wo sie unter katastrophalen Lebensbedingungen leben und kriminellen Netzwerken ausgesetzt sind.

Zudem hat die US-Regierung die mexikanische Regierung Berichten zufolge aufgefordert, die Camps zu räumen, die in Reynosa und Tijuana entstanden sind. Diese jüngsten Entwicklungen führen zu einer tragischen Schlussfolgerung: Die anhaltende Krise wird keine Lösung finden, solange den Asylsuchenden weiterhin ihre Rechte verweigert und sie zum Warten und Leiden gezwungen werden.

* Namen wurden geändert 

*1 LGBTQIA+ ist eine Abkürzung der englischen Wörter Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexual/Transgender, Queer, Intersexual und Asexual.