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Eine trügerische Schönheit

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Benjamin Le Dudal

Benjamin Le Dudal

Ich bin seit 2013 Krankenpfleger und habe mich auf die humanitäre Medizin spezialisiert. Ich habe mehrere Jahre in Krankenhäusern und als freiwilliger Feuerwehrmann gearbeitet. Anschließend entschied ich mich, für Ärzte ohne Grenzen in meinen ersten Einsatz nach Madagaskar zu gehen - während der dortigen Nahrungsmittelkrise.

Madagaskar: Geologisch gesehen ist die Insel ein Fragment des indischen Subkontinents. Anthropologisch handelt es sich dort um eine Bevölkerung mit sowohl asiatischen als auch afrikanischen Wurzeln. Kulturell kann man viele spezifische Aspekte verschiedener ethnischen Gruppen sowie einen gewissen arabischen Einfluss erkennen. Das Klima und die Landschaft sind ebenfalls äußerst vielfältig: Im Norden befinden sich die beliebten Strände von Nosy Be, im Osten ein tropischer Küstenstreifen, im Zentrum das Hochland, im Westen die Savanne und die Baobab-Bäume und im Süden die Halbwüstengebiete. In diesen Halbwüstengebieten ist unser medizinisches Notfallteam unterwegs. 

Die Menschen erleben hier aktuell die schlimmste Dürre seit 30 Jahren und stecken mitten in einer akuten Hungerkrise. Deshalb unterstützen wir seit März die Patient*innen vor Ort.

Die fehlende Berichterstattung über diese Krise grenzt an Ignoranz und erweckt den Eindruck, als stehe die internationale Gemeinschaft der Situation in Madagaskar gleichgültig gegenüber. Die Folge: noch weniger Ressourcen.

Die Wüste wächst 

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Ockerfarbende Lanschaft im Süden Madagaskars
Neben der schweren Dürre, herrschen seit Dezember heftige Sandwinde, welche die Ackerflächen und die in der mageren Jahreszeit genutzten Lebensmittel, wie Kakteenfrüchte, abdecken.
© Ainga Razafy/MSF

Je weiter wir uns von der Ostküste entfernen, desto mehr verändert sich die Landschaft von grün zu ockerfarben. Nach und nach wird die südliche Region immer wüstenartiger. Nach zwei bis drei Jahren mit spärlichen Regenfällen sind die Maniok- und Süßkartoffelernten geschrumpft. Dieses Jahr kam die Regenzeit überhaupt nicht, und alle Ernten wurden von einer unerbittlichen Sonne verbrannt. Da auch der Transport und der Tourismus faktisch zum Erliegen gekommen sind, sind die Gemeinden noch stärker von Armut betroffen, als sie es ohnehin schon waren. 

Nichts mehr zu essen 

Ein Team von Logistiker*innen ist kürzlich von einer mehrtägigen Sondierung der ländlichen Region um die Stadt Ambovombe herum zurückgekehrt: Sie können bestätigen, dass es in mehreren Dörfern derzeit nichts mehr zu essen gibt, außer ein paar Kakteenfrüchten. 

Die Verteilung von Lebensmitteln findet nämlich in der Regel in den Städten statt. Das zwingt die Menschen in den abgelegenen Dörfern dazu, mehrere Stunden zu Fuß zu gehen. Die erhaltenen Essensrationen können sie dann aber aufgrund von Erschöpfung nur mühsam wieder zurückbringen. 

Mit Erdnüssen überleben 

Vier Stunden weiter nördlich: Wenn eine Mutter aus dem kleinen Dorf namens Ankamena ihr Kind medizinisch untersuchen lassen will, ist sie einen halben Tag zu Fuß unterwegs. Das nächste Gesundheitszentrum ist 25 Kilometer entfernt.

Das Ziel unserer mobilen Klinik ist es daher, näher an unsere Patient*innen heranzukommen und medizinische Hilfe direkt vor Ort zu leisten.

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Eltern warten mit ihren Kindern darauf, dass sie an der Reihe sind, in die mobile Klinik zu kommen und untersucht zu werden
Viele Eltern kommen mit ihren Kindern, die oft stark mangelernährt sind, in die mobilie Klinik in der Gemeinde Ranobe in Amboasary.
© Djann Jutzeler/MSF

Mein Team und ich hatten hier in Ankamena die Aufgabe, die am stärksten mangelernährten Kinder zu behandeln. Kinder unter fünf Jahren stehen im Mittelpunkt unserer medizinischen Versorgung, weil sie als erste an Hunger und den damit einhergehenden Infektionen sterben. 

In kürzester Zeit versammelte sich eine Menschenmenge aus Müttern, Kindern und älteren Menschen. Wir identifizieren die schwersten Fälle und nehmen schnellstmöglich Kleinkinder auf, die keine Lebenskraft mehr haben. Wir verwenden den Begriff "Marasmus", um diese Kombination aus Fettverlust und totalem Muskelabbau zu beschreiben, oft begleitet von durch Verdauungsparasiten aufgequollenen Bäuchen. 

Eine akute Krise 

Hierzu misst das Pflegepersonal den MUAC (mittlerer Oberarmumfang, ein nützlicher Indikator für Mangelernährung), das Gewicht und die Größe der Kinder. Dann folgt die Verteilung von Plumpynut (eine kalorienhaltige Paste aus Erdnüssen und zusätzlichen Vitaminen). Das Leben dieser Kinder steht auf dem Spiel: Ohne Nahrung in ausreichender Menge und Qualität werden sie sicher sterben. 

Allmählich verstehen wir die Situation besser: Es handelt sich nicht um eine allgemeine Hungersnot, sondern vielmehr um eine sehr akute Nahrungsmittelkrise, die ganz bestimmte Gebiete betrifft. 

Es gibt zwar einige Lebensmittelverteilungen des World Food Programms, aber mittlerweile nur noch halbe Rationen und manchmal auch nur Reis: Das wiederum führt zu Vitaminmangel und kann Krankheiten wie z.B. Beriberi (Schädigung des Nervensystems) auslösen. Nach unseren Schätzungen hätten nur 300 von 7.900 Einwohner*innen eines Ortes von der letzten Verteilung profitiert. 

Trügerische Schönheit 

Nochmal weiter nördlich liegt Ranobe, ein kleines Dorf, das von Flüssen umgeben ist und nur wenige Kilometer von einer imposanten Bergkette entfernt liegt. Trotz der natürlichen Schönheit ist das örtliche Gesundheitszentrum nicht mehr funktionsfähig. Unser medizinisches Team richtet daher die mobile Klinik in der verlassenen Schule des Dorfes ein. Die Lehrer haben den Ort schon vor langer Zeit verlassen, als klar wurde, dass die Familien nie genug Eigenmittel haben würden, um sie zu bezahlen. Viele Familien besitzen nicht einmal mehr einfache Dinge wie einen Kanister.

Wenn wir noch Fragen über die Notwendigkeit einer humanitären Intervention in Madagaskar hatten, so beantwortet dieser Ort diese zweifelsfrei.


Ein langer Tag geht zu Ende 

Abends, benommen von Müdigkeit und Hitze, müssen wir noch "unsere Daten extrahieren": die Zahlen in Form von Prozentsätzen, Altersgruppen, Komorbiditäten, geografischer Herkunft und Anzahl der konsumierten Kisten Plumpynut in Tabellen organisieren. Diese Informationen werden während der täglichen Nachbesprechung über das Satellitentelefon an die Einsatzzentrale übermittelt. 

Wenn diese letzte Aufgabe erledigt ist, heißt es jetzt oder nie: ein Bad im Fluss zu nehmen, der ein paar Minuten entfernt liegt. Hier baden auch die Dorfbewohner*innen jeden Tag. 

Der Tag endet mit einem sparsamen Abendessen aus Nudeln und Fertigsoße, die in einem Holzkohleofen aufgewärmt werden. Dann gehen alle im Schein ihrer Stirnlampe zu ihrem Feldbett, aufgestellt in zwei Zelten von jeweils 45 m2, eines für Frauen und das andere für Männer.  

Nothilfe bedeutet oftmals Improvisation 

Unser Ziel ist es nun, die Zahl der mobilen Kliniken zu erhöhen und das örtliche Krankenhaus zu sanieren, damit wir unsere schwer erkrankten Patient*innen dorthin überweisen können. Dafür brauchen wir aber Medikamente und medizinische Ausrüstung. Das Flugzeug, das diese Ausrüstung aus dem Logistiklager in Bordeaux bringen sollte, hat jedoch mit administrativen Schwierigkeiten zu kämpfen und sitzt am Istanbuler Flughafens fest. Jetzt heißt es also: Daumen drücken. In der Zwischenzeit setzen wir unsere Aktivitäten so gut es geht mit Plumpynut und den Medikamenten fort, die es vor Ort noch gibt.