Innovation: Die guten Bakterien von den schlechten trennen
Um uns herum und in uns existieren Millionen von Bakterien. Sie können sowohl schlecht als auch gut für uns sein, viele sind nützlich, andere gefährlich. Der menschliche Körper enthält genauso viele Bakterien wie Zellen. Um gesund zu bleiben, brauchen wir eine Vielfalt an guten Bakterien, denn sie schaffen eine Art Gleichgewicht zu den schlechten.
Eine unspezifische Behandlung mit Antibiotika tötet jedoch nicht nur die schädlichen Bakterien ab, sondern auch die hilfreichen. Wenn die Medikamente zu oft und falsch eingesetzt werden, sinkt die Zahl der guten Bakterien und es besteht die Gefahr, dass die schlechten mehr Platz einnehmen.
Bakterien sind anpassungsfähig
Die Entdeckung des Penicillins 1928 hat das Gesundheitswesen revolutioniert. Die Innovation hat unzählige Leben gerettet. Doch auch Bakterien sind anpassungsfähig. Fast 100 Jahre nach seiner Entdeckung, haben viele Bakterien gelernt, gegen Antibiotika resistent zu sein. So kann eine kleine Wunde zum Todesurteil werden, wenn sie resistente Bakterien infizieren.
Antibiotikaresistenz (ABR) ist Teil des größeren Konzepts der antimikrobiellen Resistenz (AMR) d. h. Bakterien, Viren, Pilze und Parasiten mutieren und sprechen nicht mehr auf die verfügbaren Medikamente an. Heute sind Infektionen durch resistente Bakterien für rund 1,14 Millionen Todesfälle pro Jahr verantwortlich, und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) befürchtet, dass Infektionen mit resistenten Mikroorganismen bis 2050 weltweit die häufigste Todesursache sein werden.
Ein Hauptgrund für die steigende Resistenz von Bakterien ist, dass Antibiotika viel zu unspezifisch verschrieben werden. Wenn nichts anderes mehr wirkt, greifen Ärzt*innen zu sogenannten Reserveantibiotika, doch auch die Infektionen durch Bakterien, die selbst gegen diese Behandlungen resistent sind, nehmen zu. Dennoch werden Antibiotika weiterhin unnötigerweise verschrieben und eingesetzt.
Was, wenn die Wahl ist, Antibiotika blind zu verschreiben oder gar nichts zu tun?
Wenn eine Patient*in hier in Frankreich oder in Schweden wegen Halsschmerzen oder Fieber zur Ärzt*in geht, kann die Ärzt*in mit einem Schnelltest feststellen, ob es sich um ein Virus oder ein Bakterium handelt. Die meisten Infektionen mit Symptomen wie Fieber und Halsschmerzen werden durch Viren verursacht, bei denen Antibiotika unwirksam sind. Handelt es sich um eine bakterielle Infektion, muss man wissen, um welches Bakterium es sich handelt, damit man das richtige Antibiotikum verschreiben kann.
Gesundheitseinrichtungen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen sind aber oft nicht mit dieser Art von diagnostischen Möglichkeiten oder den dafür erforderlichen Laboren ausgestattet. Sie sind bestenfalls in den größeren Krankenhäusern verfügbar.
Um den übermäßigen Einsatz von Antibiotika zu reduzieren, ist die Verbreitung von Informationen sowohl unter Gesundheitsfachkräften als auch in der Öffentlichkeit entscheidend. Aber selbst wenn Gesundheitsfachkräfte besser informiert sind, aber die notwendigen Diagnostika nicht zur Verfügung stehen, haben sie keine andere Wahl als Antibiotika unspezifisch anzuwenden.
Wenn ich als Ärzt*in ein Kind mit hohem Fieber sehen würde und vor der Wahl stünde, blindlings Antibiotika zu verschreiben oder gar nichts zu tun, würde ich sie auch verschreiben. Wir wissen, dass es ein Zeitfenster von etwa 24 bis 36 Stunden gibt, um zu handeln, wenn ein sehr krankes Kind eingeliefert wird."
Die Diagnose ist ein vernachlässigter Bereich in der medizinischen Wissenschaft
Das Problem besteht aus zwei Teilen:
fehlender Zugang zu funktionierenden Diagnostika und Laboren Mangel an mikrobiologischer Expertise
Die bisher vorhandenen Diagnoseinstrumente sind oft teuer und wurden für die Bedingungen in Ländern mit hohem Einkommen entwickelt. Viele Länder, in denen Ärzte ohne Grenzen arbeitet, können es sich nicht leisten, die Instrumente in großem Stil zu kaufen. Einige der Tests können nicht bei Temperaturen über 30 Grad gelagert werden und sind empfindlich gegenüber Staub und Feuchtigkeit, dies stellt unter den Bedingungen, unter denen wir arbeiten, eine große Herausforderung dar.
Außerdem müssen auch Mitarbeitende mit den richtigen Fähigkeiten verfügbar sein
Die Ergebnisse aus dem Labor können nicht direkt von der Ärzt*in verwendet werden. Denn die Auswertung eines antimikrobiellen Empfindlichkeitstests (AST) ist ein komplexer Prozess, den nur eine Mikrobiolog*in mit mehrjähriger Spezialausbildung durchführen kann. Weil es aber vielerorts bereits an den Diagnoseinstrumenten mangelt, ist die Schulung im Umgang mit diesen Instrumenten in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen auch nicht Teil der medizinischen und technischen Ausbildung. Hier gibt es eine enorme Lücke. Man schätzt, dass in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara 400 Jahre Ausbildung nötig wären, um den Mangel an Mikrobiolog*innen zu decken.
Not macht erfinderisch
Ich war 2016 für Ärzte ohne Grenzen im Jemen im Einsatz: Meine Aufgabe war es, das Labor im Krankenhaus in Aden einzurichten, in dem wir kriegsverletzte Patient*innen aufnahmen. Viele von ihnen hatten Wunden, die mit resistenten Bakterien infiziert waren. Aber wir konnten keine Mikrobiolog*in finden. Daher mussten wir unsere Testergebnisse jeden Tag zur Validierung verschicken. Ein untragbarer Zustand.
Ich wollte das ändern und etwas erfinden, das nicht-spezialisierten Mitarbeitenden bei der Interpretation von Testergebnissen helfen könnte, bevor sie Antibiotika verschreiben. Mir schwebte eine Handy-App vor, mit der man ein Foto des Testergebnisses macht, und die App dann die Verschreibung veranlasst. Sobald ich aus dem Jemen zurückkam, kontaktierte ich die Ärzte ohne Grenzen Stiftungs-Zentrale in Paris und stieß auf Interesse. Wir verbrachten die nächsten Jahre damit, die Idee auszuarbeiten und bekamen 2019 den Zuschlag für die Google AI Impact Challenge: Ein großer finanzieller Zuschuss und eine Gruppe von Ingenieur*innen, die uns bei der Entwicklung der KI-Funktionen der App unterstützten.
Die App fungiert als Feedbackplattform und stellt Fragen, um beim Lernen zu helfen. Außerdem interpretiert sie die Ergebnisse und gibt der Techniker*in Hinweise für weitere Tests oder zur Bestätigung einer Diagnose. Dann sendet sie Nachrichten an die Ärzt*innen, um die Behandlung der Patient*en zu unterstützen."
Unsere Ideen für neue medizinische Lösungen werden gebraucht.
2022 wurde Antibiogo in unseren Projekten in Mali, im Jemen, in der Demokratischen Republik Kongo und in Jordanien eingeführt. Es hat außerdem das CE-Siegel der EU erhalten, das bestätigt, dass ein Produkt die Umwelt-, Gesundheits- und Sicherheitsanforderungen erfüllt. Seit Anfang 2024 führen wir die App auch in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen in Mali ein. Für weitere Länder ist es in Planung.
Unser Ziel ist es, dass die App in Ländern, in denen ein erheblicher Mangel an Mikrobiolog*innen herrscht, als diagnostischer Test und als breit angelegtes Lerninstrument dient. Dies muss jedoch mit einem verbesserten Zugang zu funktionierender Diagnostik und Laboren in diesen Ländern einhergehen. Deshalb setzen wir uns auch weiterhin bei Medizinunternehmen und Politiker*innen dafür ein, das möglich zu machen.
Ich hoffe, dass mehr und mehr Diagnostika auch für die Umstände in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen entwickelt werden. Und ich hoffe, dass die Menschen bei Ärzte ohne Grenzen den Mut haben, ihre Ideen voranzutreiben - egal, wie verrückt sie erscheinen mögen. Wir sind vor Ort und sehen die Realität an vielen Orten, an denen nur wenige andere Organisationen tätig sind. Unsere Ideen für neue medizinische Lösungen werden gebraucht.