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"Leere Betten spiegeln das Gesicht des Krieges wieder"

Dr. Erlend Grøninngen ist Stationsarzt im Boost-Krankenhaus in Laschkar Gah, Helmand. Das Krankenhaus hat 300-Betten und wird von Ärzte ohne Grenzen gemeinsam mit dem afghanischen Gesundheitsministerium betrieben. In seinem Bericht beschreibt er, wie der Konflikt rund um die Provinzhauptstadt die Menschen daran hindert, rechtzeitig das Krankenhaus zu erreichen. Gerade in den vergangenen Wochen, in denen die Kämpfe in der Provinz Helmand immer heftiger wurden und immer näher an Laschkar Gah heranrückten, nahmen die Patientenzahlen deutlich ab.

Der Konflikt umgibt die Stadt, und auch wenn die Kampfhandlungen in den vergangen Tagen etwas abgenommen haben, stellen wir hier im Boost-Krankenhaus einen erheblichen Rückgang an Patientenaufnahmen fest. Normalerweise ist das Krankenhaus überfüllt mit Patientinnen und Patienten, doch in letzter Zeit kommen immer weniger Menschen in die Notaufnahme.

Unheimliche Stille und leere Betten

Für unsere Teams ist es frustrierend zu sehen, dass der Konflikt direkten Einfluss darauf hat, ob die Menschen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Die Betten auf der Kinderstation und in den Ernährungszentren sind sonst immer belegt mit lärmenden Kindern und jungen Patienten - oft auch zwei in einem Bett. Sie werden dort wegen Mangelernährung oder anderer, lebensbedrohlicher Umstände behandelt. Diese Stationen waren unheimlich still und die Betten leer. Leere Betten spiegeln das Gesicht des Krieges wieder.

Als die Kämpfe in der vergangen Woche wieder etwas abnahm, konnten wir feststellen, dass sich die Kinderstation und die Ernährungszentren plötzlich wieder auf ein normales Niveau füllten. Die Anzahl der Menschen, die in die Notaufnahme kamen, schwankte täglich.

Kämpfe verhindern rechtzeitige Behandlung

Vor ungefähr einer Woche kam ein 15-jähriges Mädchen aus dem Stadtteil Nawa in einem sehr schlechten Zustand zu uns. Sie war an einer Hirnhautentzündung erkrankt und benötigte eine sofortige Behandlung. Ihre Eltern sagten uns, dass sie bereits seit mindestens einer Woche krank sei. Nawa liegt zwar in unmittelbarer Nähe und ihnen war klar, dass es sich um eine schwere Erkrankung handelte, aber aufgrund der Kämpfe konnten sie nicht früher ins Krankenhaus kommen. Wir nahmen das Mädchen im Wissen auf, dass es möglicherweise schon zu spät für sie sein könnte. 24 Stunden nachdem wir mit der Behandlung begonnen hatten, fiel das Mädchen in ein Koma und starb.

Ein weiteres Beispiel war ein Junge, der mit starker Atemnot zu uns kam. Seine Familie erklärte uns, dass er bereits seit 12 Tagen diese Symptome hatte. Wir untersuchten ihn und stellten fest, das seine Lungen in einem lebensbedrohlichen Zustand waren. Bei dem sogenannten Spannungspneumothorax handelt es sich im Wesentlichen um eine Ansammlung von Luft in der Brusthöhle, die durch eine Verletzung der Lunge ausgelöst wird. Wir legten ihm eine Brustkorbdrainage und sein Zustand verbesserte sich umgehend. Trotzdem wird er noch eine ganze Weile einen Schlauch in der Brust haben müssen, damit sich die Lunge wieder vollkommen erholen kann.

Wir röntgten ihn und es stellte sich heraus, dass er außerdem an Tuberkulose erkrankt war, eine häufige Krankheit in Helmand. Wir begannen mit der Behandlung und kurz darauf erholte er sich ausreichend, um wie jeder andere 7-jährige Junge neugierig durch das Krankenhaus zu laufen. Die Bewegung war ihm jedoch unangenehm. Eine weitere Untersuchung zeigte, dass er eine ausgekugelte Hüfte hatte. Aufgrund seines schlechten Zustandes bei der Ankunft in der Notaufnahme, hatten die Eltern des Jungen keine Chance gehabt uns von einem Autounfall zu berichten, der 12 Tage zuvor passiert war und der Grund für seine Lungen- und Hüftverletzung war. Die Hüfte wurde wieder eingerenkt und ihm wurde ein Streckverband angelegt. Jetzterholt er sich nun auf der Kinder-Intensivstation.

Der Zugang zum Krankenhaus muss ermöglicht werden

Der Fall dieses Jungen zeigt, dass, auch wenn ein Patient in einem kritischen Zustand und viel zu spät ins Krankenhaus kommt, es trotzdem noch Hoffnung gibt. Doch diese Verzögerungen bringen Leben unnötig in Gefahr. Es muss den Menschen ermöglicht werden, uns schneller zu erreichen.

Dr. Erlend Grøninngen ist aus Trondheim, Norwegen, und kam im April 2016 nach Afghanistan. Seine Arbeit dort konzentrierte sich vorrangig auf den Bereich innere Medizin sowie die Tuberkulose-Behandlung. Es ist Dr. Grøninngens zweiter Einsatz für Ärzte ohne Grenzen, nachdem er bereits 2014 im Südsudan war. In Norwegen arbeitet und lehrt er als Spezialist für Lungenheilkunde.