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Ohne Chance auf Asyl: Migrant*innen in endloser Warteschleife

Die andauernde Abschottungspolitik der USA gefährdet die Sicherheit Zehntausender Geflüchteter und Migrant*innen in der Grenzregion zu Mexiko. Massenausweisungen und Rückführungen in das Nachbarland sind an der Tagesordnung. Dort sind die Menschen der organisierten Kriminalität und der Covid-19-Pandemie schutzlos ausgeliefert. Auch Familien mit kleinen Kindern, alleinreisende Frauen oder Angehörige der LGBTQI-Community werden in Mexiko weitgehend sich selbst überlassen und sind massiven Gefahren ausgesetzt. Immer mehr Migrant*innen kommen zudem aus Afrika.

Als Karen (21) ihre dreijährige Tochter auf den Rücken nimmt, um mit ihr den Rio Bravo zu durchqueren, ist das bereits ihr siebter Versuch die Grenze zu den USA zu überqueren. Das kleine Mädchen weint, Karen muss sie beruhigen, damit sie nicht bemerkt werden. Endlich auf der anderen Flussseite angekommen, verstecken sich die beiden gemeinsam mit anderen Migrant*innen zwischen Büschen und warten auf einen geeigneten Moment, ihre Flucht fortzusetzen. Am Ende werden sie doch entdeckt.

Erneut endet der Weg von Karen und ihrer kleinen Tochter in der mexikanischen Grenzstadt Matamoros im Bundesstaat Tamaulipas. “Ihre Müdigkeit ist physisch sichtbar”, sagt unsere Psychologin Ximena de la Garza, die Karen schon mehrmals getroffen hat. “Denn nicht nur sind die Grenzüberquerungen extrem gefährlich - auch der ganze Prozess der Inhaftierung und Gewalt, die diese Menschen erleben können, hinterlassen Spuren. Trotzdem versucht sie es immer wieder.” Karen ist aus Guatemala geflohen, nachdem ihr Bruder ermordet und ihr mit dem Tod gedroht wurde. Nun will sie zu ihrem Partner, der es bereits in die USA geschafft hat. Doch wie Tausende andere wurde sie nach ihrer Ankunft in den USA sofort wieder nach Mexiko zurückgebracht, ohne überhaupt einen Antrag auf Asyl stellen zu können.

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Eine Gruppe Migrantinnen in Reynosa
Wir bieten in verschiedenen mexikanischen Städten u.a. psychologische und soziale Unterstützung für Migrant*innen und Geflüchtete an. Dazu gehören auch Übersetzungsleistungen für nichtspanischsprachige Personen.
© MSF/Cesar Delgado

Mauern und Massenausweisungen

Begründet werden diese erzwungenen Rückführungen von den US-Behörden mit dem sogenannten „Titel 42“. Diese Anordnung wird missbraucht, um Massenausweisungen - angeblich aus Gründen der öffentlichen Gesundheit im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie - durchzuführen. In der Realität blockiert der „Titel 42“ derzeit effektiv das Recht, in den USA einen Antrag auf Asyl zu stellen.

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Teams behandeln auch Abgeschobene mit psychischen Erkrankungen
Die Zahl der Abgeschobenen u.a. in Reynosa nimmt täglich zu. Unsere Teams für psychische Gesundheit beobachten bei ihren Patient*innen Anzeichen von komplexen Traumata, Depressionen, akute Stressreaktionen und psychosomatische Symptome.
© MSF/Clémentine Faget

"Wieder einmal erleben wir den Bau von physischen und bürokratischen Mauern, um das Recht auf Asyl zu blockieren und die freie Bewegung von Menschen zu unterbinden, die vor der Gewalt in ihren Herkunftsländern fliehen", sagt unser Projektkoordinator in Mexiko, Antonino Caradonna. "Das zeigt sich sowohl an der Nord- als auch an der Südgrenze Mexikos. Während die USA Neuankömmlinge sofort massenhaft abweisen und ausweisen, werden sie in Mexiko drangsaliert und inhaftiert."

Keine Chance auf Asyl

Unter ihnen auch Maria (33), aus Guatemala. „Wir mussten aus Guatemala fliehen, weil mein Mann in seinem Job mit sensiblen Informationen zu tun hatte und die Gangs ihn danach ausfragten. Sie haben ihn bedroht und geschlagen. Sie kamen sogar zu uns nach Hause und drohten damit, unsere Kinder zu töten. Da beschlossen wir, das Land zu verlassen.”

Doch auch Marias Familie hatte keine Chance auf ein Asylverfahren in den USA. “Unsere Daten wurden nicht ausgewertet, sie haben uns nie befragt oder eine Aussage von uns aufgenommen. Es gibt keine Möglichkeit, den eigenen Fall darzulegen. Selbst wenn es Beweise gibt, bekommt man keine Chance.”

In die Gefahr gezwungen

Währenddessen ist die Situation für die zurückgewiesenen Migrant*innen in Mexiko von enormen Gefahren und weitgehender Schutzlosigkeit geprägt. „Polizeiaktionen in der Nähe von Notunterkünften oder Orten, an denen Geflüchtete und Migrant*innen medizinische und humanitäre Hilfe erhalten, gefährden die Menschen zusätzlich. Sie zwingen sie, sich zu verstecken, gefährlichere Routen zu wählen und so leichtere Opfer für organisierte Kriminalität und Erpressung zu sein", sagt unser Projektkoordinator Antonino Caradonna.

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Abgeschobene leben in Zelten in Reynosa
Wie hier in Reynosa sind Hunderte von Menschen unter prekärsten Bedingungen gestrandet. Sie sind der Gefahr von Entführung und Gewalt ausgesetzt und haben keine Möglichkeit, sich mit dem Nötigsten zu versorgen.
© MSF/Clémentine Faget

Entlang der Nordgrenze Mexikos, in Städten wie  Reynosa, Nuevo Laredo und Ciudad Juárez haben unsere Teams Hunderte abgeschobene Familien medizinisch betreut. "Sie werden in mexikanische Grenzstädte gebracht, ohne Informationen darüber, wo sie sind. Es gibt viele Frauen mit Kindern auf dem Arm, die in der Haft weder etwas gegessen noch eine würdige Behandlung erhalten haben. Wir haben ein 4 Jahre altes Mädchen behandelt, das dehydriert in Ciudad Juárez ankam, weil es in den Abschiebungszellen in den Vereinigten Staaten nicht einmal Wasser bekommen hat“, sagt Geaninna Ramos, die als medizinische Beraterin für uns arbeitet.

Migration aus Afrika nimmt zu

Eine weitere besonders schutzbedürftige Gruppe bilden nicht-spanischsprachige Flüchtende: Menschen indigener Herkunft, Haitianer*innen sowie die zunehmende Zahl von Asylsuchenden aus afrikanischen Ländern, die vor extremer Gewalt in ihrer Heimat geflohen sind – darunter Menschen aus der Elfenbeinküste, Guinea, Kamerun, Burundi und der Demokratischen Republik Kongo. Letztere haben extrem lange Reisen hinter sich: Sie überqueren den Atlantik und kommen in Ländern wie Brasilien, Chile oder Ecuador an. Unter großen Risiken durchqueren sie danach den Kontinent mit dem Bus oder zu Fuß bis zur nördlichen Grenze Mexikos. Die meisten von ihnen warten seit mehr als einem Jahr auf eine Antwort auf ihre Asylanträge, die von den Regierungen der USA und Mexikos unter dem Vorwand der Covid-19-Pandemie auf Eis gelegt wurden.

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Paul* spricht in einer Unterkunft mit einer unserer Mitarbeiter*innen
Paul* spricht in einer Unterkunft in Reynosa mit einer unserer Mitarbeiter*innen.
© MSF/Cesar Delgado

Einer von ihnen ist Paul* aus Burundi. In seiner Heimat wurde er ohne Anklage inhaftiert. Zuvor hatte das Militär sein Haus gestürmt und seine Schwester vergewaltigt. Er schaffte es, nach Ruanda zu fliehen und nach einer Odyssee über Brasilien, Peru, Panama und Nicaragua in Mexiko anzukommen. Dort hat er inzwischen in einer unserer Einrichtungen für psychische Gesundheit Hilfe gefunden. Während der langen Wartezeiten, die Migrant*innen und Geflüchtete an den Grenzen in Mittel- und Nordamerika verbringen, entwickeln sie häufig Symptome wie Angst, Stress und Depressionen, die sich im Laufe der Zeit weiter verschlimmern. Wir sind die einzige Organisation, die Psycholog*innen in die oft provisorischen Unterkünfte entsendet, in denen die Betroffenen leben. „Ich möchte wieder ein normales Leben haben, wieder zur Arbeit gehen“, sagt Paul. „Ich fühle mich hier nicht zuhause.“

*Name geändert

Ärzte ohne Grenzen leistet in Mexiko u.a. medizinische, psychologische und soziale Hilfe für Migrant*innen und Geflüchtete sowohl entlang der nördlichen Grenze zu den USA als auch an der Grenze zu Guatemala und in verschiedenen Orten entlang der gefährlichen Migrationsroute. Wir appellieren erneut an die USA, Mexiko und weitere Regierungen in der Region, ihre repressive Migrationspolitik zu beenden und politische Maßnahmen zu ergreifen, die die Sicherheit der Menschen auf der Flucht gewährleisten. Wir appellieren zudem dringend an die mexikanische Regierung, ihre institutionellen Maßnahmen zu verstärken und die humanitären Bedürfnisse der Migrant*innen zu berücksichtigen.