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Ein „Schild“ der Gewalt: Europas jüngste Antwort auf Migrant*innen

Kurz vor dem vierten Jahrestag des EU-Türkei-Deals haben die europäischen Staats- und Regierungschefs erneut eine Krise an der EU-Außengrenze ausgerufen. Am 27. Februar kündigten die türkischen Behörden an, dass sie niemanden mehr daran hindern würden, die Türkei Richtung Europäische Union zu verlassen. Daraufhin verstärkte die griechische Regierung umgehend ihre Grenze und bat die Europäische Grenzschutzagentur Frontex um zusätzliche Unterstützung. Tausende Schutzsuchende sind nun in der Nähe der Grenze in Nordgriechenland gefangen. In der Ägäis starb ein Kind bei einem Schiffsunglück vor der Insel Lesbos. Mehr als je zuvor finden Menschen, die in Europa Schutz vor Gewalt, Konflikten oder extremen Notlagen suchen, genau das Gegenteil. Warum geschieht dies und wie erleben unsere Teams die Auswirkungen vor Ort?

Während der jüngsten Entwicklungen wurden die Schutzsuchenden an der türkisch-griechischen Landgrenze mit Tränengas und Schüssen angegriffen. Berichten zufolge verzögerten die griechischen Behörden die Hilfe für Boote in Seenot, während maskierte Männer Boote mit Männern, Frauen und Kindern angriffen und damit absichtlich Leben gefährdeten.

Am 1. März kündigte die griechische Regierung Sofortmaßnahmen an, mit denen das Recht auf Asyl für einreisende Personen vorübergehend ausgesetzt wird. Außerdem können Neuankömmlinge ohne Registrierung zügig abgeschoben werden, und die Grenzsicherung wird durch zusätzliches Militär- und Sicherheitspersonal verstärkt. Einige Tage später bezeichnete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Griechenland als „Schutzschild“ Europas und kündigte an, dass Griechenland zusätzlich 700 Millionen Euro für den Grenzschutz und die Beschleunigung von Rückführungen von Schutzsuchenden erhalten werde.

Griechenland im Ausnahmezustand: Asylsuchende werden kriminalisiert

Menschen, die nach dem 1. März in Griechenland ankamen, werden Berichten zufolge in geschlossenen Haftanstalten oder in Gefängnissen festgehalten. Die Regierung hat erklärt, dass Familien nicht getrennt werden – das heißt, es werden auch Kinder inhaftiert. Menschen, die nach diesem Datum auf den griechischen Inseln ankamen, wurden – ohne Zugang zu Grundversorgung – in den Häfen der Inseln festgehalten und warten darauf, in die Haftanstalten geschickt zu werden, um von dort abgeschoben zu werden.

Diese Maßnahmen zählen zu den weltweit restriktivsten (Straf-)Maßnahmen gegen Schutzsuchende. Sie kriminalisieren diejenigen, die in Griechenland Asyl suchen, verwehren ihnen jede Schutzmöglichkeit und können die Menschen letztlich wieder in Gefahr bringen.

Dass EU-Politiker*innen zu solchen Berichten schweigen, macht sprachlos

„In der vergangenen Woche ging es der griechischen Regierung und den führenden Politikern Europas eher um Grenzschutz als um Menschenleben“, sagt unsere Expertin für Flucht und Migration, Reem Mussa, „am vergangenen Wochenende berichteten Menschen unserem Team auf Lesbos, dass sie 16 Stunden auf dem Meer festsaßen. Sie wurden wiederholt von maskierten Männern angegriffen, die sich an ihrem Boot zu schaffen machten. Mitarbeitende der Küstenwache hätten einfach zugeschaut.“

Auf Samos trafen unsere Mitarbeiter*innen Menschen, die von ihren Familien getrennt worden waren und von Einschüchterungen und Bedrohungen durch die griechische Küstenwache berichteten. Ein Mitarbeiter habe mit einer Pistole auf ein Boot voller Kinder, Frauen und Männer gezielt. Diese Berichte sind extrem besorgniserregend. Dass EU-Politiker zu solchen Berichten schweigen, macht sprachlos. Es müssen dringend Maßnahmen ergriffen werden, um der Gewalt gegen Flüchtlinge und Migranten ein Ende zu setzen.“

Alleingelassen im Chaos: Verletzliche Menschen in Gefahr

Die führenden Politiker*innen der EU haben sich auf Grenzkontrollen, Abschreckung und Maßnahmen, um Geflüchtete auf den griechischen Inseln festzuhalten, konzentriert. Dies hat Anstrengungen, funktionierende Asyl- und Aufnahmesysteme zu entwickeln, Menschen über Griechenland hinaus umzusiedeln und medizinische Hilfe bereitzustellen, unterminiert. So wurde immenses menschliches Leid verursacht.

Seit Jahren weisen wir regelmäßig auf die strukturelle Gewalt und die humanitären Folgen des EU-Türkei-Abkommens für Menschen, die auf den griechischen Inseln Schutz suchen, hin. Wir haben die verheerenden physischen und psychischen Folgen des unbegrenzten Festhaltens auf den Inseln und ungerechter Verfahren gesehen. Gegenwärtig stecken mehr als 40.000 Menschen in fünf Aufnahmezentren in slumartigen Verhältnissen auf den Inseln fest, die für nicht mehr als 6.000 Personen ausgelegt sind. Mehr als ein Drittel von ihnen sind Kinder. Die Bedingungen sind schrecklich. Viele schwere chronische Krankheiten oder psychische Erkrankungen werden nicht medizinisch versorgt.

Angriffe auf Geflüchtete und Helfer*innen

Nach vier Jahren humanitärer Vernachlässigung ist klar, dass Asylsuchende und lokale Gemeinschaften von den europäischen Politiker*innen im Stich gelassen wurden. Nachdem die griechische Regierung die Einrichtung neuer geschlossener Zentren auf den griechischen Inseln angekündigt hatte, anstatt die Menschen aus den bestehenden Camps in Sicherheit zu bringen, schlugen die lokalen Spannungen in Gewalt um. Unruhen, Straßensperren, Brandstiftung und rassistische Angriffen auf Asylsuchende und diejenigen, die ihnen Hilfe leisten, waren die Folge. In den ersten drei Februarwochen wurden auch unsere Mitarbeiter*innen in Lesbos drei Mal verbal bedroht, einmal traten Angreifer gegen das Auto, in dem sich ein Mitarbeiter befand.

Die wirkliche humanitäre Krise angehen

Die Migrationspolitik der Europäischen Union ist die Ursache für die sich verschlechternde Situation in Griechenland. Diejenigen, die in Europa Schutz suchen, zu kriminalisieren, wird keine Lösung sein.

Europäische Politik muss Menschenleben schützen und gesundheitliche und humanitäre Risiken minimieren. Die EU-Migrationspolitik muss die Menschenwürde wahren. Ein gemeinsames Asylsystem der EU muss auf den Weg gebracht werden, ebenso wie die Stärkung von Schutzmechanismen und der Zugang zu einer bedarfsorientierten Gesundheitsversorgung.

Es geht hier nicht um Zahlen, mit denen man rechnet, um Waren, mit denen man handelt oder um Bedrohungen, die man ins Meer zurückdrängt. Es geht hier um Menschen.