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„Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, um zu überleben“

Mehr als vier Millionen Menschen laufen Gefahr, keinerlei humanitäre und medizinische Hilfe mehr zu erhalten, wenn die grenzüberschreitende Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen am 10. Juli ausläuft. 

"Die mögliche Schließung des Grenzübergangs Bab al-Hawa ist für viele Menschen hier ein Grund zur Sorge, besonders für die Menschen in den Lagern", sagt Osama Joukhadar, unser Logistikleiter im Nordwesten Syrien. „Sollte dieser Grenzübergang geschlossen werden, würde dies die Lebensader für die Versorgung der Menschen mit Hilfsgütern abschneiden. All unsere Aktivitäten sowie die gesamte humanitäre Hilfe in der Region wären gefährdet. Die Situation würde deutlich schlimmer werden, als sie bereits ist.“ 

Permanente Anspannung und Sorge 

Muhammad Hassan und seine Familie wurden in ein Camp im Nordwesten Syriens vertrieben, als ihr Haus im Jahr 2019 bei Bombardierungen zerstört wurde. Hassan wurde schwer am Bein verletzt, sodass er sich einer schwierigen Operation unterziehen musste. Dabei musste eine Metallplatte in seinen Oberschenkel eingesetzt werden. Dies hat bei ihm chronische Schmerzen sowie psychische Narben hinterlassen.  In einer Umgebung, in der die grundlegenden Bedürfnisse gedeckt sind, wäre eine Behandlung kein Problem – doch unter den Bedingungen des Geflüchtetencamps ist sie fast unmöglich.  

"Unser Leben im Lager ist geprägt von Sorgen, Ängsten und Schmerzen", sagt Muhammad Hassan. "Wir leiden unter der Kälte im Winter und der extremen Hitze im Sommer." 

Hassan hat ursprünglich als Bauer gearbeitet. Das Land war seine Lebensgrundlage. Als er es verlor, verlor er auch die grundlegenden Mittel, um sein Überleben zu sichern. Heute ist er auf humanitäre Hilfe angewiesen. Für die Behandlung seines Beins geht er in ein von uns unterstütztes Krankenhaus, in dem er kostenlos medizinisch versorgt wird.  

Muhammad ist einer von rund vier Millionen Menschen, die im Nordwesten Syriens leben. Davon benötigen nach Schätzungen der UN mindestens drei Millionen Menschen irgendeine Form von humanitärer Hilfe. Der zehnjährige Konflikt, die Covid-19-Pandemie und eine schwere Wirtschaftskrise haben die Verwundbarkeit der Menschen weiter verschärft.  

 

Wachsende Abhängigkeit von humanitärer Hilfe 

2,7 Millionen Menschen sind Binnenvertriebene und mehr als die Hälfte von ihnen lebt in Camps, die von humanitären Organisationen betrieben werden. Viele sind vollständig auf humanitäre Hilfe angewiesen. Sie leiden unter schlechten Lebensbedingungen, mangelnder psychischer Betreuung und erhalten keine medizinische Versorgung, wie beispielsweise Impfungen. Nicht selten leiden die Menschen an Hautkrankheiten wie Krätze, Leishmaniose oder an Diabetes und anderen chronischen Erkrankungen.  

Im gesamten Nordwesten Syriens arbeiten wir daran, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Camps die medizinische Versorgung zu gewährleisten. Die Teams versorgen Brüche und Wunden und kümmern sich um die Gesundheitsversorgung von Müttern und Kindern. Zudem laufen Impfkampagnen, um die Ausbreitung tödlicher Krankheiten zu verhindern.  

Wir unterstützen derzeit acht Krankenhäuser, darunter eine Station für Patient*innen mit Verbrennungen und zwölf Zentren für medizinische Grundversorgung, fünf Überweisungsambulanzen und 14 mobile Kliniken in mehr als 80 Camps.  

Anhaltende Unsicherheit 

"Es mag den Anschein haben, dass die humanitären Organisationen bereits viel leisten", sagt Francisco Otero y Villar, Missionsleiter für Syrien, "aber der Bedarf ist nach wie vor riesig. Millionen von Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, um im Nordwesten Syriens zu überleben, und überall, wo wir hinschauen, haben wir das Gefühl, dass noch mehr getan werden muss, um den Menschen vor Ort zu helfen. Aber das ist eine große Herausforderung. Die anhaltende Unsicherheit sowie Zugangs- und Versorgungsengpässe schränken die Möglichkeiten von uns und anderen Akteur*innen, diese dringend benötigte humanitäre Hilfe zu leisten, stark ein." 

Das Lager Deir Hassan ist mit 120.000 Vertriebenen überfüllt. Die Lebensbedingungen sind katastrophal. Ärzte ohne Grenzen unterstützt das primäre Gesundheitszentrum vor Ort.
© Abdul Majeed Al Qareh

Neben medizinischer Tätigkeit betreiben wir auch Wasser-, Sanitär- und Hygienedienste in rund 90 Camps für Vertriebene im Nordwesten Syriens. Wir verteilen Hygienekits (bestehend aus Seife, Handtüchern und Hygieneartikeln), bauen Latrinen und Toiletten, verbessern die sanitären Anlagen, verwalten die Müllabfuhr und liefern Wassertanks.   

Allein im Juni 2021 verteilten wir 6.000 Hygienesets in 60 Camps und rund 29.000 Kubikmeter Wasser an mehr als 30.000 Vertriebene. Unsere Teams bauten außerdem 100 Latrinen und verteilten 240 Latrinenstühle für Ältere und Menschen mit Behinderung in 17 Lagern.   

Schließung des Grenzübergangs würde die Situation drastisch verschlimmern 

"Die Aktivitäten vieler humanitärer Organisationen sind in letzter Zeit zurückgegangen, vor allem im Bereich der Wasser-, Sanitär- und Hygienedienste (WASH) sowie bei der Verteilung von Lebensmittelkörben und Hygienesets, deshalb haben wir versucht, die Lücken mit unserem Einsatz zu füllen. Aber wir leiden unter dem steigenden Bedarf und dem Mangel an Ressourcen im Nordwesten Syriens, und das wird nur noch schlimmer werden, wenn Bab al-Hawa, der letzte Grenzübergang in dieses Gebiet, geschlossen wird”, sagt Osama. 

Die Menschen im Nordwesten Syriens fürchten nun den 10. Juli 2021 und die Gefährdung der so dringend benötigten Hilfe.