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„Ihr seid auf euch allein gestellt!“ – Ausgesetzt im Nirgendwo

„Sie setzen uns mitten in der Wüste aus, mitten in der Nacht.“ Boukari Bouhari wurde wie Tausende von Algeriern in den Niger abgeschoben und dabei in Lebensgefahr gebracht.
Pape Cire Kane/MSF

Wer Assamaka erreicht, hat die Reise durch die Wüste überlebt. Die kleine Siedlung in der Sahara liegt in Niger und ist eine wichtige Zwischenstation für Flüchtende und Migrant*innen, die aus dem nördlichen Nachbarland Algerien kommen. Der Niger ist zum Drehkreuz für Hunderttausende Menschen auf ihrer Suche nach einem Leben in Sicherheit und Würde geworden. Aus Algerien werden die Menschen in den Niger abgeschoben, aus Libyen, dem zweiten nördlichen Nachbarstaat, fliehen sie vor Krieg und Gewalt. Mehr als 540.000 durchquerten den Niger, nach Angaben der Internationalen Migrationsbehörde (IOM), in 2019. Viele berichten von Gewalt und Misshandlung, die sie auf ihrem Weg erleiden und weisen psychische Traumata auf. Häufig werden die Menschen ohne Handy, Geld oder Proviant in der Wüste ausgesetzt. Die Zahl der Menschen, die hier ihr Leben verlieren, lässt sich nur erahnen. 

Wenn Migrant*innen, Geflüchtete und Asylsuchende es bis nach Algerien geschafft haben, haben sie fast immer eine lange Reise hinter sich. Sie sind erschöpft, desorientiert und besitzen zumeist nicht mehr, als die Kleidung, die sie am Körper tragen. Doch sie sind nicht am Ziel oder gar in Sicherheit. In Algerien werden sie von der Straße aufgelesen und in Internierungslager gebracht. Es ist der Beginn eines häufig von Gewalt und Misshandlung begleiteten Abschiebeprozesses, von dem uns Dutzende Menschen, die aus Algerien ausgewiesen wurden, berichteten. 

„Point Zero“ – mitten im Nirgendwo

Wöchentlich werden durchschnittlich 500 Menschen aus Algerien in den Niger abgeschoben. Von den Internierungslagern aus werden sie zum sogenannten "Point Zero" gebracht, von wo aus die Menschen, die gerade erst erschöpft in Algerien ankamen, gezwungen sind, die etwa 15 Kilometer bis zum Ort Assamaka im Niger zu Fuß zurückzulegen. „Wir werden behandelt als wenn… als wenn wir keine Menschen wären“, erinnert sich Boukari Bouhari. Er stammt aus Benin und wurde aus Algerien abgeschoben. 

Den Weg durch die Wüste müssen die Männer, Frauen und Kinder ohne Handy, ohne Geld und meistens ohne genaue Orientierung zurücklegen. Eine lebensgefährliche Situation, denn Erwachsene können ohne Wasser kaum mehr als drei Tage lang überleben, vor allem bei extremer Hitze, Kinder noch kürzer. „Sie nehmen uns unsere Handys weg, sie nehmen all unser Geld. Sie nehmen uns alles weg. Sie setzen uns in der Wüste aus, mitten in der Wüste, mitten in der Nacht, und sagen: »Ihr seid auf euch allein gestellt«“, erzählt Boukari Bouhari. 

Auch unter der psychischen Belastung leiden die Menschen. Häufig berichten uns unsere Patient*innen bei ihrer Ankunft in Assamaka von ihren Sorgen um Familienmitglieder, von denen sie entlang ihres Wegs oder während des Abschiebeprozesses getrennt wurden.

Such- und Rettungsaktionen in einem Meer aus Sand

Von Januar bis Oktober 2019 haben sich unsere Teams vor Ort um fast 7.000 aus Algerien vertriebene Menschen gekümmert. Unsere Mitarbeiter*innen verteilten Wasser, energiereiche Kekse und lebenswichtige Dinge wie Hygienesets, Unterwäsche, Decken und Kleidung. Darüber hinaus haben wir Duschen und Latrinen gebaut. Und wir bieten Untersuchungen an, um sowohl den akuten Bedarf an medizinischer als auch psychischer Unterstützung zu ermitteln. 

Aber nicht nur in Assamaka, im Nordwesten des Niger, zeigen sich die missliche Lage der Schutzsuchenden und die Folgen einer zunehmenden Kriminalisierung von Migration. Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration verdoppelte sich die Zahl der Menschen, deren Weg durch den Niger führte, zwischen Januar und Oktober 2019 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum von geschätzten 266.590 geflüchteten Menschen im Jahr 2018 auf über 540.000 in 2019. Darum sind wir seit August 2018 an mehreren Orten entlang der Migrationsrouten in der Region im Einsatz. Und wir beteiligen uns an der Suche und Rettung von Migrant*innen, die sich in der Wüste verlaufen haben oder dort abgesetzt wurden.

Flucht aus Libyen: Im Norden das Meer, im Süden die Wüste

Der zweite nördliche Nachbarstaat des Niger ist Libyen. Ein Bürgerkriegsland, in dem die Menschen vor willkürlicher Inhaftierung, Folter, Vergewaltigung, sexueller Ausbeutung und anderen Menschenrechtsverletzungen fliehen. Einige versuchen in ihrer Verzweiflung, in seeuntauglichen Booten das Mittelmeer zu überqueren. Die anderen riskieren ihr Leben auf dem Weg durch ein anderes Meer: Sie versuchen die Sanddünen der Ténéré-Wüste im südlichen Teil der Sahara zu durchqueren, um nach Süden in den Niger zu gelangen. 

Viele werden unter falschen Versprechungen nach Libyen gebracht und ihrer Freiheit beraubt. Rose , die wir in einer Gesundheitseinrichtung im Niger trafen, wurde, wie sie berichtet, in einem Gebäude mit etwa 30 weiteren, teils sehr jungen Mädchen festgehalten und zur Sexarbeit gezwungen. „In diesem Haus bin ich durch die Hölle gegangen. Wenn ich keinen Sex hatte, haben sie mich zu Tode geprügelt. Eines Tages schlug er mich so hart, dass meine Hand geschwollen und gebrochen war. Ich saß einfach alleine da und weinte.“ 

Rose ist die Flucht aus Libyen geglückt. Sie erzählte unseren Mitarbeiter*innen von ihrer Gefangenschaft in Libyen und dass es ihr gelungen sei, ihren Entführern zu entkommen. Schleuser brachten sie schließlich in den Niger. Unsere Teams in der Region Agadez, im Zentrum des Landes, sind vielen Überlebenden mit ähnlichen Geschichten wie der von Rose begegnet. 

Zwischen Januar und Oktober 2019 haben wir mehr als 30.400 allgemeine Konsultationen durchgeführt und Menschen, die eine sofortige weitergehende Behandlung benötigten, in Krankenhäuser und Kliniken überwiesen. Unsere Teams für psychische Gesundheit führten 713 Konsultationen mit Menschen durch, die unter Angstzuständen, Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen litten.