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„Diese Gesetze sind Maßnahmen, die töten“

 

Hunderttausende flüchten jedes Jahr entlang der Migrationsroute von El Salvador, Honduras und Guatemala über Mexiko in Richtung USA. Sie fliehen vor Gewalt und organisiertem Verbrechen. Doch auch während der Flucht müssen sie Entführung, sexualisierte Gewalt, Folter und Tod fürchten. Seit vergangenem Jahr hat sich die Situation weiter verschlechtert: Neue Migrationsgesetze der USA, Mexikos und weiterer zentralamerikanischer Länder, die beispielsweise zu einer Begrenzung von Asylanträgen an den Grenzposten zu den USA führen, zwingen die Menschen dazu, an unsicheren Orten auszuharren, bis sie Asyl beantragen und weiterreisen dürfen.

Im Interview erklärt uns Carol Bottger, medizinische Koordinatorin für unsere Projekte in Mexiko, die Auswirkungen dieser verschärften, regionalen Migrationsgesetze auf die Menschen, die wir entlang der Transitroute durch Mexiko medizinisch versorgen.

Vor einem Jahr wurden die neuen Migrationsgesetze erlassen. Inwiefern hat das die medizinischen Projekte von Ärzte ohne Grenzen vor Ort beeinflusst?

Vor einem Jahr begannen wir zu beobachten, wie sich die Zusammensetzung der Migrant*innen-Gruppen veränderte. Es kamen mehr Familien, mehr Frauen, mehr unbegleitete Minderjährige – was die medizinische Versorgung komplexer macht. Dazu kommen diejenigen, die aus den USA ausgewiesen wurden. Das sind heute mehr, als noch vor einem Jahr. Manche von ihnen waren fünf, zehn oder 20 Jahre in den USA und finden sich plötzlich deportiert an der Grenze wieder, ohne familiäre oder soziale Bindungen nach Mexiko. Viele haben chronische Gesundheitsbeschwerden oder wurden aus Gefängnissen an die Grenze gebracht. Bei Vielen lässt sich posttraumatischer Stress diagnostizieren.

Wie haben sich diese Gesetze auf die Patient*innen ausgewirkt?

Einige der Menschen, die in die Vereinigten Staaten gelangt sind und im Rahmen des Programms "Remain in Mexico", also „Bleib in Mexiko“, zurückgeführt wurden, leiden unter akutem, sehr starkem Stress. Zynisch wird das Programm offiziell „Migrant Protection Protocols (MPP)“ genannt, also „Schutzprotokolle für Migrant*innen“. Dabei haben die Menschen Angst, den Horror den sie erfahren haben, noch einmal durchleben zu müssen. Sie leiden unter der Unsicherheit, womöglich an einen äußerst gewalttätigen Ort zurückgebracht zu werden, an dem das organisierte Verbrechen aktiv ist. Ein Ort, an dem die reale Gefahr besteht, dass sie entführt oder erpresst werden oder noch Schlimmeres geschieht. Sie befürchten, in eine fremde Stadt in Mexiko zurückgebracht zu werden, Tausende Kilometer von der Grenze entfernt. Die verschiedenen Patient*innengruppen sind also komplex, die Unterschiede groß –  mit einem gemeinsamen Nenner: Ihr Leiden ist universell.

Was sind die größten Herausforderungen, die Patient*innen an den Grenzen Mexikos bewältigen müssen?

Wenn die Migrant*innen die südliche Grenze zwischen Guatemala und Mexiko erreichen, kommen sie aus einer Umgebung der Gewalt. Wenn sie dann nach Mexiko kommen, haben sie die Hoffnung, es geschafft zu haben. Sie sind geflohen und zumindest nach Mexiko gelangt. Die Mehrheit weiß zwar, dass ihnen nun eine noch viel gefährlichere Reise bevorsteht, aber sie halten an ihrer Hoffnung fest. Wenn wir sie an der nördlichen Grenze betreuen, hat sich ihre Angst zumeist bestätigt und die Erlebnisse haben ihre Befürchtungen häufig übertroffen. Das hat schwerwiegende körperliche und psychische Folgen.

An der nördlichen Grenze sehen wir zudem sehr viele Frauen, die sexualisierte Gewalt und Menschenhandel erlebt haben, sowie unbegleitete Minderjährige, die ebenfalls sowohl sexualisierte als auch physische Gewalt überlebt haben.

Welche Gefahren birgt die neue restriktive Migrationspolitik?

Früher waren die Migrationsrouten und -ströme "bekannt". Jetzt, angesichts einer solch repressiven Politik, verringern sich diese Ströme nicht, sondern werden unsichtbar. Migrant*innen verschwinden aus der Wahrnehmung und werden damit viel verletzlicher. Sie wechseln die Orte zum Grenzübertritt. Sie setzen auf andere Transportmittel. Menschen sind verwundbarer, wenn sie sich verfolgt fühlen: Sie befürchten zum Beispiel, entdeckt zu werden, wenn sie zum Arzt gehen müssen. Und das treibt sie in die Netzwerke für Menschenhandel. Diese neuen Gesetze sind Maßnahmen zur Verfolgung, Maßnahmen, die töten.

Ärzte ohne Grenzen verfügt in Mexiko City über ein umfassendes Behandlungszentrum für Patient*innen, die unter Folter oder extremer Gewalt gelitten haben. Wie sieht die Arbeit in diesem Zentrum aus?

Die überwiegende Mehrheit unserer Patient*innen sind Migrant*innen, die in ihrem Herkunftsland und auf ihrer Reise schreckliche Gewaltsituationen erlebt haben. Die meisten von ihnen kommen in Südmexiko an und wir begleiten ihre Reise in die Hauptstadt, wo sich unsere Einrichtung befindet.

Unser Ziel ist es, ihr Leiden zu lindern und ihnen zu helfen, ihre körperliche und geistige Verfassung wiederherzustellen, damit sie ihre Reise oder ihr persönliches Vorhaben fortsetzen können. Deshalb sind wir sehr zufrieden, wenn eine Patient*in nach durchschnittlich sechs Monaten gehen will. Das ist ein Erfolg. Alle unsere Patient*innen sind schutzbedürftig. Viele von ihnen gehören zur LGBTI-Community. Einige haben Folter oder gar Verstümmelung, Menschenhandel, Haft, Entführung und Erpressung überlebt. Die daraus resultierenden medizinischen und psychischen Gesundheitsprobleme der Patient*innen sind in der Regel sehr komplex und erfordern viele Behandlungen und Zeit zum Heilen.

Ist in Planung, auch in anderen Gegenden mit hoher Gewaltrate eine medizinische Versorgung anzubieten?

Wir möchten gern medizinische Versorgung an mehr Orten anbieten, in denen die Gewalt- und Kriminalitätsraten hoch sind. Im Moment arbeiten wir hauptsächlich mit mobilen Kliniken im Bundesstaat Guerrero. Wir versuchen aber auch andere Orte wie den Nachbarstaat Michoacán zu erreichen, wo die Menschen Hilfe aufgrund gewalttätiger Übergriffe benötigen. 

Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Projekten für Migrant*innen und denen, die Ärzte ohne Grenzen für Überlebende von Gewalt in Guerrero und anderen Orten anbietet?

Es geht überall um Überlebende von Gewalt und um Überlebende, die nach wie vor nicht geschützt sind. Ich erinnere mich an einige Leute aus Guerrero, unter anderem eine Familie, die nur aus Kindern bestand. Ihre Eltern waren wahrscheinlich dem organisierten Verbrechen zum Opfer gefallen. Die Kinder waren Überlebende sexualisierter Gewalt. Ein Mädchen, 14 Jahre alt, wurde zur Sexarbeit gezwungen, damit sie ihre Geschwister unterstützen konnte. Wir haben es geschafft, ihnen mithilfe einer ihrer Tanten einen gewissen Schutz zu bieten und ihnen auch einige Selbstfürsorge-Techniken beizubringen.

Und auch die Migrant*innen, die wir betreuen, fliehen vor Menschenhandel, Gewalt, Familienentführungen... Sie müssen gehen, weil sie keine andere Wahl haben. Die schlimmste Ungerechtigkeit ist, dass sie auch nach ihrer Flucht keinen Schutz finden.