„Ich erinnere mich, wie gut es den Gefangenen tat, nicht vergessen zu sein“
Die Psychologin Heike Zander hat sechs Monate lang das psychologische Hilfsprogramm von Ärzte ohne Grenzen in Tripolis geleitet. Gemeinsam mit den mobilen medizinischen Teams der Organisation ist ihr Team in die offiziellen Internierungslager der libyschen Hauptstadt gefahren und hat – soweit dies möglich war – versucht, den inhaftierten Flüchtlingen und Migrant*innen Beistand zu leisten. Ihr Team hat Opfer von Gewalt und Ausbeutung in illegalen Gefängnissen in Libyen genauso betreut wie Überlebende eines tödlichen Luftangriffs auf eines der Internierungslager. Hunderte willkürlich Gefangene, die meist von der EU-unterstützten libyschen Küstenwache ins Konfliktgebiet zurückgezwungen worden waren, hat sie mit ihren Mitarbeiter*innen geholfen, unter menschenunwürdigen Bedingungen nicht die Hoffnung zu verlieren. Hier berichtet sie von ihren Erlebnissen.
Mein erster Tag – der Schock der Überlebenden
Meine Ankunft in Libyen fiel zusammen mit einem entsetzlichen Luftangriff auf wehrlose Gefangene: Am 3. Juli wurde die Militärbasis Tadschura bombardiert und eines der größten Internierungslager in Tripolis getroffen, das sich auf dem Gelände befand. Mindestens 53 Menschen starben nach Angaben der „International Organisation for Migration“ bei dem Angriff, nach Augenzeugenberichten womöglich deutlich mehr. Dieses Lager besuchte ich als erstes mit unserem Team.
In einem Innenhof fanden wir hunderte Überlebende bei 40 Grad in der Sonne. Dem bisschen Schatten, den zwei vertrocknete Bäume boten, folgten die Inhaftierten den ganzen Tag mit den paar Matten und Matratzen, die ihnen zur Verfügung standen. Ein kleines Haus, sonst für Wächter reserviert, war den wenigen Frauen vorbehalten. Ein Drittel von ihnen war hochschwanger.
Die Angst und Hilflosigkeit sind geblieben
Zu dem Zeitpunkt waren die Ruinen des bombardierten Gebäudes, in der sich eine der Zellen für die Männer befunden hatte, bereits abtransportiert. Von den bei dem Angriff Getöteten war keine Spur mehr zu sehen. Die Angst und Hilflosigkeit aber waren geblieben. Angst, dass es erneut passieren würde. Schrecken über das Erlebte. Trauer über den Verlust von Menschen, die die Hinterbliebenen kannten und die mit ihnen gelitten hatten. Trauer darüber, dass den Toten eine bessere Zukunft endgültig verwehrt war.
Unser Team selbst war nicht weniger geschockt. Hatten die Kolleg*innen doch noch in der Woche zuvor die Menschen in eben dieser Zelle versorgt und versucht, ihnen Hoffnung zu machen.
Während das Team versuchte, die Verbleibenden medizinisch zu versorgen, waren es vor allem Fragen, die die Inhaftierten hatten: Wie es nun weitergehe; was für sie getan werden würde, um einen neuen Angriff und noch mehr Opfer zu vermeiden. Aber auch Verwirrung und Erschrecken darüber, dass der Wiederaufbau des Gebäudes vor ihren Augen geplant wurde, als wäre nichts passiert; als hätte das Leben der Getöteten nichts bedeutet; als wäre auch ihr Leben nicht genug wert, um es zu beschützen.
Ich erinnere, wie gut es ihnen tat, dass jemand da war
Ich sah dem Team zu, wie sie sich den Inhaftierten zuwandten, sich nicht scheuten, schwierige Fragen zu hören, auch wenn sie die Antwort nicht kannten. So begann auch ich, Augenkontakt aufzunehmen, um den Menschen zu vermitteln, dass ich bereit bin zuzuhören. Ich führte nicht viele Gespräche an diesem Tag, da die wenigsten Inhaftierten Englisch konnten und ich kein Arabisch spreche. Aber an die, die ich führte, erinnere ich mich noch gut. Geschichten von Flucht, die mit der Hoffnung begann, etwas Besseres zu finden, und die in Abhängigkeit, Ausbeutung und Inhaftierung endeten. Ich erinnere das Gottvertrauen, von dem mir die Menschen erzählten, wann immer ich danach fragte, was ihnen half, all das durchzustehen.
Hier traf ich auch den einzigen syrischen Inhaftierten, Hassan (alle Namen geändert), Mitte 30, der vor politischer Verfolgung im eigenen Land geflohen war, nur um in Libyen als Immigrant verfolgt und eingesperrt zu werden. Oder Jamal, Anfang 20, aus dem Sudan, der nach Jahren der Flucht und Ausbeutung so offensichtlich depressiv war, dass Augenkontakt schwierig und das Sprechen bereits verlangsamt waren. Ich erinnere, wie gut es ihnen tat, dass jemand da war, der fragte, wie es ihnen geht. Jemand, der ihre Namen aufnahm, damit sie nicht vergessen werden.
Es half zu sehen, dass wir einen Einfluss haben
Es war ein bedrückender erster Tag für mich. Ein Besuch, der sich in Tadschura nicht wiederholen sollte, da Ärzte ohne Grenzen gemeinsam mit anderen NGOs entschied, die Unterstützung für dieses Internierungslager auf einem Militärgelände auszusetzen. Wir stoppten unsere Besuche dort, um ein Zeichen zu setzen, dass Zivilist*innen nicht als Schutzschilde für Militäreinrichtungen missbraucht werden dürfen.
Es fiel dem Team sichtlich schwer, das „Nichtstun“ auszuhalten. Zu sehen, dass unser Protest letztendlich den gewünschten Effekt hatte und Tadschura offiziell als Internierungslager aufgegeben wurde (auch weil sich die Inhaftierten durchgehend weigerten, in die Zellen zurückzukehren und letztendlich vereint das Lager verließen, nachdem zunächst nur die Frauen verlegt worden waren), half jedoch zu sehen, dass Veränderung möglich war und wir als Ärzte ohne Grenzen einen Einfluss haben können. Die Freude wich jedoch, als wir mitbekamen, dass die Überlebenden, die Tadschura verlassen durften, weitgehend ihrem Schicksal überlassen wurden. So sahen viele von ihnen keine andere Chance als die Fahrt über das Mittelmeer zu riskieren. Einige wurden sogar von der „Ocean Viking“ gerettet, dem Rettungsschiff, das Ärzte ohne Grenzen gemeinsam mit SOS Mediterranee betreibt.
Ungeziefer, Enge, Urin, Angst – die Internierungslager
Es war schwer für mich, mir im Vorfeld vorzustellen, wie ein Internierungslager aussieht. Die Bilder und Videos, die ich gesehen hatte, halfen zwar, haben mich aber nicht wirklich vorbereitet. Noch immer fällt es mir schwer, die passenden Worte zu finden.
Keines der Lager, welches ich während meiner Zeit in Tripolis gesehen habe, war für die Unterbringung von Menschen geeignet. Es handelte sich in allen Fällen um Räume ohne ausreichend Tageslicht oder Frischluft. Jeder Zentimeter Boden wird für die alten, verbrauchten Matratzen genutzt, die selten ausreichend vorhanden sind, und oft Hort für Ungeziefer und Krankheitsüberträger waren. Auf diesen liegen die meist männlichen Gefangenen lethargisch, da sie bei fehlender Luftzirkulation und unzureichender Ernährung keine Energie für irgendetwas haben. Da sie das wenige, was sie zu essen haben, oft im gleichen Raum zubereiten, in dem sie schlafen müssen, stehen überall Eimer mit abgestandenem Wasser, welches nur dann gewechselt wird, wenn es nicht mehr anders geht. Denn der Zugang zu Wasser ist nicht selbstverständlich, und zu sauberem schon gar nicht. So mischt sich der Geruch von abgestandenem Essen mit dem von menschlichem Schweiß, denn die Sommer sind heiß und lang.
Die hygienischen Bedingungen sind katastrophal
Die wenigen Toiletten, die es gibt, sind oft verstopft und stinken. Schlimmer wird es nur, wenn die Gefangenen gar keinen Zugang zu den Toiletten erhalten. Das kann zum Beispiel über Nacht der Fall sein, wenn die Gefangenen in ihren Zellen eingeschlossen wurden, sich die Toiletten aber im Hof befanden. Morgens hatte sich so oft ein Rinnsal unter der Tür gebildet, oder am Ausgang standen offene, mit Urin gefüllte Sieben-Liter-Flaschen.
So fristen die Gefangenen zu hunderten auf engstem Raum ihr Dasein. Sie erhielten oft nur Ausgang aus ihren Zellen, wenn wir, das Team von Ärzte ohne Grenzen, kamen: ein bis zweimal pro Woche für ein paar Stunden, in denen wir sie medizinisch und psychologisch behandeln konnten.
Der Zugang zu Gefangenen wird uns erschwert
Allerdings hatten wir keinen uneingeschränkten Zugang zu den Gefangenen. Sie wurden in Gruppen zwischen fünf und dreißig Personen zu uns gebracht. Einzelgespräche wurden uns oft nicht erlaubt, was besonders für die psychologische Betreuung schwierig war. Wir mussten immer wieder darum verhandeln, die Gefangenen aus bestimmten Zellen sehen zu können, manchmal ohne Erfolg. Wir wussten oft auch nicht, ob es weitere Zellen gab, deren Insassen wir nicht zu Gesicht bekamen. Zu manchen offiziellen Internierungslagern bekamen wir gar keinen Zugang.
Es gab Besuche, bei denen wir schon am Anfang sehen konnten, dass den Inhaftierten offenbar eingeschärft worden war, nicht mit uns zu sprechen: gebeugte Haltung, kaum Blickkontakt, einsilbige Antworten, eine insgesamt erdrückende Stimmung, die die Situation noch unerträglicher machte.
Aber wir kamen trotzdem, jede Woche. Oft zum Leidwesen der Lagerleitung und Wächter, denn wir stellten Fragen; wir wollten sehen, wie es den Gefangenen geht; wollten uns kümmern um die, die in Libyen in ständiger Gefahr waren, ausgebeutet zu werden.
Den Alltag in Gefangenschaft überleben – unsere psychologische Hilfe
Psychologische Unterstützung für die Inhaftierten war unter den genannten Umständen gleichzeitig komplex und simpel: Komplex, da nie klar war, ob wir den Inhaftierten überhaupt wiedersehen würden, da nie wirklich Privatsphäre herrschte, und gerade der Einzelkontakt zu uns im Nachhinein zu Befragungen und physischer Gewalt durch Wächter und Lagerleiter führen konnte. Wir mussten also in jeder Situation einen Kompromiss finden zwischen unserem Wunsch, das Leiden der Inhaftierten zu reduzieren, und den möglichen Folgen eines längeren Kontakts mit einem der Mitglieder unseres Teams. Nicht zuletzt, da wir das grundlegende Problem unserer Patient*innen, aus der willkürlichen Haft zu entkommen, nicht lösen konnten.
Unsere Unterstützung war gleichzeitig simpel, da es viele Möglichkeiten gibt, zumindest ein kleines Stück Normalität in den Lageralltag zu bringen. Es fängt damit an, eine offene Haltung zu haben und keine Berührungsängste zu zeigen: Augenkontakt aufzunehmen und zuhören wollen. Tatsächlich ist aktives Zuhören die Basis für alles, was dann folgen kann: Sei es Aufklärung, um den Menschen zu ermöglichen, die eigenen psychischen Symptome einschätzen zu lernen und zu verstehen, welche Möglichkeiten sie haben, damit umzugehen, oder um Aktivitäten zu finden, die stimulieren – sowohl den eigenen Geist als auch das soziale Miteinander.
Wir beobachten Symptome bis hin zu Suizidalität
Bei den Symptomen, mit denen wir immer wieder konfrontiert waren, handelte es sich vor allem um Schlafstörungen, das Grübeln über die immer gleichen Dinge, Unsicherheit, Sorgen um die Zukunft und um die Familie im Heimatland, das Unverständnis, so feindselig behandelt zu werden, und eine depressive Grundstimmung. Nichts davon stellt eine ungewöhnliche Reaktion auf die Situation dar, in der sich die Inhaftierten wiederfinden. Tatsächlich überraschte es mich immer wieder, wie sehr die Notwendigkeit, den Alltag in Gefangenschaft zu überleben, die Verschlimmerung der genannten Symptome unter Kontrolle hielt.
Es macht mir aber auch deutlich, wie groß das Leid für diejenigen sein muss, die psychiatrisch auffällig wurden. Bei diesen Menschen beobachteten wir einerseits Symptome im Spektrum der Psychose, meist akustische Halluzinationen (in Einzelfällen auch akute paranoide Psychosen), andererseits akute Belastungsstörungen, geprägt durch emotionale Ausbrüche und Alpträume nach dem Schock, andere auf See sterben zu sehen (meist direkt nach dem Zurückbringen vom Mittelmeer) oder posttraumatische Belastungsstörungen durch jahrelange Inhaftierung, die sich durch ständige Anspannung, Aggression, Flashbacks, bis hin zu Dissoziationen und Suizidalität äußerten. In solchen Fällen ist eine Unterbringung im Krankenhaus eigentlich unabdingbar. Das wurde den Gefangenen aber nicht immer gewährt.
Es gab Möglichkeiten zur Aktivierung der Gefangenen
Für die Aktivierung und Stimulation der Gefangenen gab es für uns dennoch viele Möglichkeiten. Wir waren aber immer von den Umständen in dem jeweiligen Internierungslager abhängig und davon, was uns dort erlaubt war. So gaben wir jedem Inhaftierten einen Stift und ein Heft, um Gedanken und Erfahrungen aufzuschreiben. Aber auch Wachsmalstifte und Papier, um sich kreativ auszudrücken, waren gern gesehen. Kartenspiele, Schach, Domino, und Jenga-Spiele waren immer willkommen. Weitere Spiele wie Tic-Tac-Toe, Tabu oder ‚Mensch ärgere dich nicht‘ konnten wir mit einfachen Mitteln vor Ort herstellen. In einem Lager konnten wir sogar Fußball- und Volleyballspiele initiieren, solange wir vor Ort waren. Auch versuchten wir, Lockerungsübungen gegen die allgemeine Muskelverspannung durchzuführen und diese so zu normalisieren.
Für die Zeit zwischen unseren Besuchen richteten wir eine Art kleine Bibliothek mit frei verfügbaren Büchern in unterschiedlichen Sprachen ein. Besonders beliebt waren ‚Der kleine Prinz‘ oder ‚Monte Cristo‘ in Französisch, Klassiker wie ‚The Old man and The Sea‘, ‚Gulliver’s Reisen‘ oder ‚Robinson Crusoe‘ in Englisch, oder Übersetzungen verschiedenster Bücher ins arabische, z.B. ‚Der letzte Traum der Cleopatra‘ von Christian Jacq oder ‚How to fall in Love‘ von Cecilia Ahern. Aber auch Wörterbücher (Tigrinja oder Somali zu Englisch) oder Texte zu spezifischen Themen, die einzelne Inhaftierte interessant fanden – etwa Geographie oder Geschichte – wurden gern genommen.
Es war nie einfach zu gehen, ohne zu wissen, ob es ein nächstes Mal gibt
Bei Frauen war das Herstellen von bunten Kunststoffbändern beliebt. Und die Kinder, die mit ihnen eingesperrt waren, konnten sich an Luftballons, kleinen Puppen und Autos erfreuen. Einer meiner Mitarbeiter brachte auch wiederholt seine Gitarre mit und gab so den Gefangenen die Möglichkeit, in ihren Liedern ein Stück Heimat zu erleben. Und so wurde für einen kurzen Moment fast jeder wieder zum Kind und konnte sich so als mehr erleben, als nur ein Gefangener.
Natürlich war es dennoch nie genug Zeit, der Besuch immer zu kurz. Es war nie einfach, gehen zu müssen, ohne zu wissen, ob es ein nächstes Mal geben wird. Und trotz aller Unterstützung durch unser Team waren und sind doch letztendlich Freiheit und Sicherheit das, was die Inhaftierten wirklich brauchen. Auch, um endlich die psychologische Hilfe in Anspruch nehmen zu können, die nicht nur ihr tägliches Überleben, sondern auch die Verarbeitung des Erlebten und damit eine gesündere Zukunft ermöglichen würde.