Direkt zum Inhalt

Ein Leben mit HIV

Miriam Anyango wog mit 35 Jahren nur 30 kg. Anfang 2006 wurde festgestellt, dass sie HIV-positiv ist – eine Diagnose, die damals noch mit einem Todesurteil vergleichbar war. Die durch das Virus übertragenen Infektionen schwächten ihren Körper, sie hatte häufig mit schwerem Durchfall zu kämpfen, verlor immer mehr an Gewicht. Die traditionellen Mittel, die man ihr gab, halfen nicht. Irgendwann, war sie kurz davor aufzugeben…

Miriams schmerzhafte Geschichte ist auch die vieler anderer HIV-Patient*innen, die lange dafür kämpfen mussten, eine adäquate Behandlung zu erhalten. 

"Ich wurde mit Medikamenten für kranke Kühe behandelt"

Miriam ging zu einem Naturheiler, der ihr sagte, sie habe eine Chira - einen Fluch, und ihr dagegen Kräuterpräparate gab. "Er injizierte mir Medikamente, mit denen eigentlich kranke abgemagerte Kühe behandelt wurden“, erzählt die Mutter von sechs Kindern. "Ich bekam so schlimmen Durchfall, dass ich in einem Plastikbecken schlafen musste", fügt sie kichernd hinzu. Diese Behandlung dauerte mehrere Wochen. "Manchmal versteckte ich mich, wenn er kam, weil mein Körper es nicht mehr ertragen konnte, und obwohl es mir danach nicht besserging, musste ich ihm eine meiner Kühe als Bezahlung geben."

Zugang zur HIV-Behandlung zu bekommen war damals nicht einfach, allein um sich testen zu lassen, musste Miriam 20 Kilometer in ein Krankenhaus in der Stadt Sori im Süden Kenias fahren. Behandelt werden konnte sie dort aber nicht, da für ihre Region ein anderes Krankenhaus zuständig war. "Ich bettelte und weinte, aber der Arzt sagte, das Beste, was er tun könne, sei, mir einen Überweisungsbrief zu schreiben, den ich ins Krankenhaus des Bezirks Homa Bay bringen solle."

Endlich! Die rettende Behandlung

Früh am nächsten Tag, den Brief sicher in ihrer Handtasche, verließ sie ihr Haus in Richtung Homa Bay, etwa 30 Kilometer entfernt. "Mir ging es nicht so gut", berichtet Miriam. Als der Arzt ihr Blut auf  weiße Blutkörperchen überprüfte, waren er und seine Kolleg*innen schockiert von dem Ergebnis: Miriam hatte nur noch zwei weiße Blutkörperchen pro Kubikmilliliter Blut. Medizinisch eine kleine Sensation, denn zu dieser Zeit starben viele Menschen, die noch mehr als das Zehnfachen an weißen Blutkörperchen besaßen. 

 

Andere Ärzte wurden auf ihren Fall aufmerksam. "Sie fragten mich, wie oft ich deswegen schon in Behandlung gewesen sei und ich sagte ihnen: nicht ein Mal", erzählt Miriam. "Sie hätten mich fast ausgeschimpft und haben mich gefragt, warum ich nach dem Test so lange gebraucht habe, um mit der Behandlung zu beginnen", berichtet sie. "Ich erzählte ihnen nicht von der komplizierten Bürokratie und den Überweisungen in verschiedene Krankenhäuser. Sie behandelten mich sehr gut und nach zwei Monaten war ich wieder zu Kräften gekommen und meinem Körper ging es sichtbar besser."

Behandlung statt Stigma 

Mitte bis Ende der neunziger Jahre waren mehr als 36 Prozent der Bevölkerung im Landkreis Homa Bay im Südwesten Kenias HIV-positiv. Für Menschen, die mit HIV lebten, gab es zu dieser Zeit nur begrenzte Behandlungsmöglichkeiten und sie hatten zusätzlich zu der Krankheit mit Missverständnissen und Stigmatisierung zu kämpfen. Eine lokale Mediensendung bezeichnete HIV etwa als „Liebestöter-Krankheit“ und Frauen, die sich infiziert hatten, wurden nicht selten von ihren Männern verlassen.

Ärzte ohne Grenzen hat 1997 begonnen in Homa Bay zu arbeiten, um die hohe Zahl der durch das Virus verursachten Todesfälle zu verringern. Im Jahr 2001 konnten wir dann auch antiretroviraler Therapien (ART) im Bezirkskrankenhaus Homa Bay anbieten und später in anderen Gesundheitseinrichtungen in Ndhiwa, einer Region mit besonders hoher HIV-Infektionsrate. 

Analyse und Evaluation

Nach elf Jahren Arbeit in Ndhiwa beschlossen wir die HIV-Infektionsrate in Ndhiwa genauer zu untersuchen und zu evaluieren (Ndhiwa HIV Impact in Population Survey (NHIPS)). Diese Studie war einer der ersten Untersuchungen, bei der die HIV-Inzidenz   und Schlüsselindikatoren für die Wirksamkeit der HIV-Versorgung direkt gemessen wurden. Als Schlüsselindikatoren identifizierten unsere Mediziner*innen beispielsweise das Bewusstsein der Menschen für ihren HIV-Status, also ob sie wussten, dass sie das Virus in sich tragen, außerdem auch die Viruslast und wie viele HIV-positive Personen eine antiretrovirale Therapie erhielten.

 

"Ziel war es, wirksame Präventions- und Pflegemodelle zu implementieren, um die Säulen der HIV-Versorgung erheblich zu verbessern", erklärt Dr. Mohammed Musoke, unser medizinischer Koordinator in Kenia. "Möglichst viele Menschen sollten auf HIV getestet werden und wenn infiziert eine antiretrovirale Therapie erhalten. Darüber hinaus wollten wir die Wirksamkeit der Behandlung für Menschen, die mit HIV leben und eine nicht nachweisbare Viruslast im Blut haben verbessern." 

Dieser Ansatz basiert auf dem Konzept der Behandlung als Prävention, da eine nicht nachweisbare Viruslast bedeutet, dass das Virus nicht weitergegeben werden kann. 

Im Anschluss an die Studie begannen wir mit einem Programm, das sich auf die Ausweitung vorbeugender Maßnahmen konzentrierte: Etwa gingen unsere Teams von Tür zu Tür und testeten die Menschen. Weiterhin behandelten wir als positiv befundene Personen, sorgten für die Verhinderung der Mutter-Kind-Übertragung bei schwangeren Frauen und verbesserten den Zugang zu antiretroviralen Therapien. 

Die Infektionsrate sinkt

Und unsere Maßnahmen zeigten Wirkung: Als wir sechs Jahre später (2018) die Auswirkungen unseres Programms überprüften, zeigte sich, dass der Anteil der HIV-Infizierten in der Region Ndhiwa um 7 bis 17 Prozent gesunken war. 93 Prozent der Bevölkerung wurde auf HIV getestet und mindestens 97 Prozent der HIV-positiven Bevölkerung erhielt eine antiretrovirale Behandlung. 95 Prozent dieser Gruppe hatten es geschafft, das Virus zu unterdrücken. 

"Dieser letzte Punkt ist besonders wichtig, da in diesem Stadium das HIV-Virus nicht auf andere Menschen übertragen werden kann", erklärt Dr. Mohammed Musoke. "Es zeigt, wie eine schnelle und wirksame Behandlung zur Vorbeugung weiterer Infektionen führt."

Der Kampf gegen HIV in Ndhiwa und in anderen Gebieten mit hoher HIV-Prävalenz*  ist noch lange nicht vorbei. Es bleibt noch viel zu tun, wenn die bisher erzielten Erfolge beibehalten und verbessert werden sollen. "Das Versagen einer antiretroviralen Therapie, die dazu führt, dass sich HIV verschlimmert und zu AIDS führt, ist weiterhin eine große Bedrohung", sagt Dr. Musoke. "HIV ist nach wie vor eine der Hauptursachen für überdurchschnittliche Krankheiten und Todesfälle in Krankenhäusern in Homa Bay, und dies ist jetzt unser Hauptanliegen."

Miriam erhält derzeit eine stärkere ART, nachdem sie eine Resistenz gegen die erste Behandlung entwickelt hat, die sie einnahm. Sie fühlt sich jedoch stärker als je zuvor. "Ich lebe noch und wenn ich meine Medikamente weiterhin regelmäßig einnehme, weiß ich, dass ich an Altersschwäche sterben werde und nicht, weil ich HIV habe. Ich hoffe, dass alle meine Kinder wachsen und etwas Sinnvolles aus ihrem Leben machen“, sagt sie.

 

*Prävalenz ist die Rate der zu einem bestimmten Zeitpunkt / in einem bestimmten Zeitabschnitt an einer bestimmten Krankheit erkrankten Personen (im Vergleich zur Zahl der Untersuchten).