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West-Mossul: „Die meisten Patienten in unserer Notaufnahme waren Kinder” – die Geschichte der achtjährigen Alia

Die Kinderärztin Monica Thallinger behandelt in unserem Krankenhaus in West-Mossul irakische Kinder. Sie erzählt, wie es den Menschen geht, die drei Jahre Herrschaft des sogenannten Islamischen Staats (IS) und neun Monate Kampf um die Rückeroberung ihrer Stadt hinter sich haben. Die qualvollen Jahre haben Traumata in den Familien hinterlassen, von denen viele medizinische Hilfe brauchen - vor allem die Kinder. Eine hoffnungsvolle Geschichte ist die der achtjährigen Alia, die seelisch und körperlich schwere Wunden davongetragen hat. Dank der medizinischen Behandlung und viel Zuwendung findet das Mädchen inzwischen aber wieder Selbstvertauen und Zuversicht.

„Als ich Ende Juli im Westen von Mossul eintraf, war noch Staub vom Beschuss durch Mörser und Artillerie in der Luft. Um uns herum war alles zerstört. Zerbombte Häuser, ausgebrannte Autos, Bombenkrater, von Kugeln durchlöcherte Zäune. Den einzigen Kontrast im monotonen Bild leerer, schuttbedeckter Straßen bildeten Kontrollpunkte, von denen einer auf den anderen folgte. Die Kämpfe waren erst vor kurzem eingestellt worden. Auf dem Weg zur Klinik bot sich mir ein erschütterndes Bild.

Inmitten von Trümmern tauchte dann das Klinikgebäude auf. Von außen betrachtet war nichts Besonderes daran. Das ausgebrannte Gebäude war aber von geschickten Logistikern von Ärzte ohne Grenzen in eine saubere und moderne kleine Klinik verwandelt worden. Ich staunte und war begeistert. Nie zuvor in den acht vorherigen Einsätzen für Ärzte ohne Grenzen hatte ich eine so gut gemachte Einrichtung gesehen. Mit einfacher Technologie ausgerüstet, war die Klinik schon kurz nach ihrer Eröffnung einsatzbereit.

Es gibt keine anderen Nichtregierungsorganisationen, die in West-Mossul arbeiten

Direkt nach meiner Ankunft lernte ich Personal und Patienten kennen. Das Kollegium bestand aus Spezialisten, jungen Ärzten und ausgebildeten Pflegekräften. Die Reinigungskräfte waren überqualifiziert, nicht selten mit erweitertem Universitätsabschluss, aber sie hatten nirgendwo anders Arbeit finden können. Die lokalen Mitarbeiter waren extrem dankbar für unsere Präsenz in ihrer Gemeinde. Es gibt keine anderen Nichtregierungsorganisationen, die in West-Mossul arbeiten, und im lokalen Kreiskrankenhaus herrscht ein akuter Mangel an Personal, Ausrüstung und Medikamenten. Von Anfang an bildeten pädiatrische Fälle die übergroße Mehrheit unserer Patienten in der Notaufnahme, und die Zahl der angenommenen Fälle nahm mit jedem Tag zu.

Drei Jahre unter der Kontrolle des sogenannten IS und ein neun Monate langer Kampf der Irak-Koalition um die Rückeroberung der Stadt – darunter hatten die Kinder in Mossul am meisten zu leiden. Unsere Notaufnahme war voller schreiender und kranker Kindern aller Altersgruppen. Zu uns kamen mangelernährte Kinder, Kinder mit Komplikationen infolge von Krankheiten wie Diabetes und Kinder mit Behinderungen infolge von Kriegsverletzungen. Einige waren bereits krank zur Welt gekommen. Viele von ihnen hatten zudem psychologische Probleme. Die Zahl der kranken und verletzten Neugeborenen und Kinder war viel höher als die der Erwachsenen, die bei Kämpfen an den Front Verletzungen erlitten hatten. In vielen traumatisierten Familien wiederholen sich Geschichten von Zerstörung, Gewalt und Verlust, die denjenigen ähneln, unter denen die Menschen in den zurückliegenden Jahren des Krieges gelitten haben. Es war nicht leicht für mich, diesen Patienten zu begegnen, und es verlangte mir viel mehr ab, als nur Ärztin zu sein.

Alias Geschichte: Das Mädchen war zunächst ein Schatten ihrer selbst

Die achtjährige Alia wurde bei der Bombardierung ihres Wohnhauses verletzt. Ihre Mutter kam dabei ums Leben. Alia trug mehrere Verletzungen davon, ihre Beine wurden mehrfach schwer gebrochen. Sie kam nach Operationen in einer anderen Klinik zu uns. Metallschienen hielten ihre Beine zusammen. Das war schmerzhaft und behinderte sie. Alia war nicht nur physisch betroffen, sondern auch sehr verängstigt und traumatisiert. Sie aß nichts mehr und wurde magersüchtig. Ich fragte mich, ob die psychologischen Folgen bei ihr schlimmer waren als die physischen Verletzungen. Sie kam mehrmals pro Woche zum Verbandswechsel. Jedes Mal kam sie mit ihrem Vater, der sie trug, und ihrer besorgten Tante. Wir lernten sie gut kennen und waren extrem besorgt über ihren Zustand. Sie wurde immer mehr zu einem Schatten ihrer selbst. Alles, was wir ihr ohne unsere neue psychologische Beraterin, die damals noch nicht eingetroffen war, anbieten konnten, waren Gespräche, Ratschläge und Spielzeug. Wo sollten wir anfangen, sie zu heilen? Es war eine Gemeinschaftsleistung, ihr den Aufenthalt in der Klinik so angenehm wie möglich zu machen. Dazu hat jeder beigetragen, von der Krankenschwester über die Träger der Krankentragen bis zu den Reinigungskräften.

Sie hat zugenommen, sieht gut aus und lächelt öfters

Dann veränderte sich Alia plötzlich. Sie begann wieder zu essen, zu sprechen, zu scherzen, zu spielen - ja sie wurde richtig frech und stibitzte unsere Stifte. Alia wuchs allen ans Herz, die ihre Verwandlung von einem verstörten kleinen Mädchen in eine jähzornige, Selfie-schießende junge Dame miterlebten. Sie blühte auf und wurde ein anderer Mensch. Bei unseren Gesprächen tranken wir Coca-Cola und aßen Chips. Kurz vor dem Opferfest tauchte sie mit gebleichten Haaren und einem dunklen Make-up auf. Sie sah aus wie ein Rockstar! Wir feierten ihr neues Outfit gemeinsam mit ihrer Familie. Es ging ihr besser und besser, physisch wie auch psychisch. Ihr Vater kommt jetzt immer mit einem breiten Lächeln im Gesicht zu uns. Er ist sehr dankbar für die Hilfe, die seine Tochter erhalten hat. Alias Wunden heilen. Bald muss sie nicht mehr in die Klinik kommen. Sie hat zugenommen, sieht gut aus und lächelt öfters. Wir werden sie vermissen.

Auch das Straßenbild auf dem Weg zur Arbeit verändert sich. Allmählich kehrt das Leben in den Westen von Mossul zurück. Jeden Tag verändern sich die Straßen. Geschäfte eröffnen und Ziegen stromern über die vielen Plätze zur Müllentsorgung, wo sie Plastik fressen. Riesenräder sind mit kreischenden Kindern gefüllt. Trotz der traumatischen Ereignisse, die das Leben unserer Mitarbeiter in den vergangenen drei Jahren bestimmt haben, kommen sie weiterhin zur Arbeit. Das beeindruckt mich sehr. Sie kochen weiter Tee für unser Frühstück, und sie kommen, um gemeinsam mit uns zu essen. Bald wird die Schule anfangen, und ich stelle mir vor, wie Alia mit ihrem Ranzen und sorgfältig geflochtenem Haar mit ihren Freunden über den dem Schulhof läuft. ‘Insha’Allah’.“