Direkt zum Inhalt

„Ich wünschte, ich wäre es gewesen, der stirbt“ - Kriegsverletzungen in Friedenszeiten

Seit Oktober 2019 treiben u.a. eine hohe Arbeitslosigkeit und sich verschlechternde Lebensbedingungen Zehntausende auf die Straßen Bagdads und anderer irakischer Städte. Seither sehen wir in den von uns betreuten medizinischen Einrichtungen die Folgen der von Gewalt begleiteten Massenproteste: Die Zahl an Verwundeten, die Operationen und postoperative Betreuung sowie psychischen Beistand benötigen, steigt. Häufig werden Patienten wie Saif Salman eingeliefert, der bei den Protesten angeschossen wurde und ein Bein verlor. Aber auch Helfer, wie Ali Salim, der Menschen rettete, indem er sie mit seinem Tuc-Tuc ins Krankenhaus brachte, geraten in die Schusslinie.  

"Ich stand auf der al-Jumhouriyah-Brücke, als ein Tränengaskanister mein Bein traf. Er steckte in meinem Bein fest und qualmte weiter", erzählt Saif Salman, der an den Protesten teilgenommen hatte. „Als ich die Augen öffnete, sah ich Tuk-Tuk-Fahrer und andere Menschen über mir. Sie brachten mich in ein Krankenhaus.“ Es dauerte Stunden, um den Tränengasbehälter, der in seinem Bein steckte, zu löschen und schließlich zu entfernen.

Humor kann kein Trauma verbergen

Nach mehreren Operationen in verschiedenen Gesundheitseinrichtungen in Bagdad entschied man sich zur Amputation. Alle weiteren Eingriffe schienen aussichtslos. "Es stimmt, sie haben mir das Bein amputiert“, bestätigt der 24-jährige Saif Salman. „Aber ich habe zwei Hände und ein weiteres Bein“, fügt er mit einem Grinsen im Gesicht hinzu. „Drei weitere Gliedmaßen, mit denen ich arbeiten kann. Ich habe nichts verloren. Ich fühle mich jetzt sogar leichter."

Sein Sinn für Humor wird seinen Genesungsprozess sicherlich fördern, aber sein Trauma und seine Qualen liegen nicht tief unter der Oberfläche. Sobald sich Saif Salman beispielsweise an seinen Klassenkameraden und Freund erinnert, der während der Proteste getötet wurde, bricht er in Tränen aus. "Ich ertrage es nicht, sein Bild zu sehen und werde traurig, wenn ich mich an ihn erinnere. Er hatte es nicht verdient zu sterben - ich wünschte, ich wäre es gewesen, der stirbt, nicht er.“

Rehabilitation für Körper und Seele

Für Menschen, die Verletzungen wie Saif Salman erlitten haben, haben wir im Jahr 2017 das Medizinische Rehabilitationszentrum Bagdad (BMRC) gegründet. Damals war es der Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS), der zahlreiche Tote forderte und viele Menschen verwundet und traumatisiert zurückließ. Als im Oktober 2019 dann die Massenproteste in Bagdad ausbrachen, erlebten die Gesundheitseinrichtungen der irakischen Hauptstadt einen rasanten Anstieg an Verletzten. Und ihre Wunden erinnerten die erfahrenen irakischen Ärzt*innen vom Schweregrad her an die Kriegsverletzungen von 2017.

Als Reaktion unterstützen wir nicht nur verschiedene Gesundheitseinrichtungen mit Notfallmaßnahmen, sondern erweiterten zusätzlich die Kapazitäten des BMRC, um den Patient*innen eine frühzeitige und umfassende postoperative Betreuung zu ermöglichen. Innerhalb des Zentrums arbeitet ein multidisziplinäres Team aus spezialisierten Ärzt*innen, Pflegepersonal, Physiotherapeut*innen und nichtmedizinischem Hilfspersonal. Auch Psycholog*innen gehören zum Team, denn wie Saif Salman, haben die meisten Patient*innen Traumatisches erlebt.

Leben retten mit dem Tuk-Tuk

"Ich habe einige Verletzungen gesehen, die mich wirklich verfolgen. Ich konnte nicht einfach wieder nach Hause gehen, meinen Kopf auf ein Kissen legen und einschlafen“, erzählt Ali Salim. Der Zwanzigjährige ist Tuk-Tuk-Fahrer und begann mit Aufkommen der Proteste, Verwundete in Krankenhäuser zu transportieren. "Ab dem 1. Oktober fingen sie an, auf Menschen zu schießen. Einige wurden von Tränengaskanistern am Kopf getroffen, andere am Bein“, erzählt er.

Auch Ali Salim selbst wurde von einer Blendgranate am Bein getroffen. Er wurde operiert und man sagte ihm, er müsse zwei Wochen im Krankenhaus bleiben, um sich richtig zu erholen, aber er konnte sich nicht ausruhen, als er den Zustrom von Verwundeten sah, die weiterhin im Krankenhaus ankamen. "Ich dachte, ich könnte meine Kräfte sammeln, aufstehen und mein Tuk-Tuk fahren, um mehr Menschen zu retten", erinnert er sich. Er entließ sich nach nur zwei Tagen – gegen ärztlichen Rat. 

Vom Retter zum Patienten

Doch es dauerte nicht lange bis Ali Salim wieder im Krankenhaus und schließlich in unserem Rehabilitationszentrum landete. Nachdem er sich selbst entlassen hatte, transportierte er wieder Verwundete. Am 7. November wurden er und ein Sanitäter, den er begleitete, zur al-Shuhada-Brücke gerufen, wo es Berichte über den Einsatz von scharfer Munition gab. Vor Ort angekommen, fanden sie drei Verletzte. Der Sanitäter bat die Sicherheitskräfte um Erlaubnis, den Verletzten helfen zu dürfen, und hob die Hände über den Kopf. Die Sicherheitskräfte weigerten sich. „Der Sanitäter schaute mich an, lächelte und sagte: Sohn, warte hier!“, erzählt Ali. Es waren seine letzten Worte. Er wurde in die Brust geschossen, als er zu den Verletzten rannte, um ihnen zu helfen.

Entsetzt über das, was er mit ansehen musste, eilte auch Ali Salim los, um den Sanitäter und die anderen Verwundeten mit dem Tuc-Tuc einzusammeln. Gerade als er sich in Sicherheit bringen wollte, sah er einen weiteren Verletzten. "Er war ein alter Mann, ich war wirklich am Boden zerstört", erinnert Ali Salim sich. Als er sich dem Mann näherte, rief ein Sicherheitsmitarbeiter, er solle zurückgehen. Ali weigerte sich und wurde in den Oberschenkel geschossen. Erneut landete er im Krankenhaus – sein Tuk-Tuk hat er nie wiedergesehen.

Im Jahr 2017 eröffnete Ärzte ohne Grenzen das Medizinische Rehabilitationszentrum Bagdad (BMRC). Im BMRC werden diejenigen behandelt, die eine frühzeitige Physiotherapie und postoperative Betreuung benötigen, einschließlich psychologischer Unterstützung. Neben Kriegsverwundeten werden auch Überlebende von Verkehrs- und Arbeitsunfällen behandelt. Seit Oktober 2019 und mit dem Beginn der von Gewalt begleiteten Protesten in Bagdad wurde das BMRC, das anfangs über eine Kapazität von 20 Betten verfügte, erweitert, um bis zu 30 Patient*innen umfassend versorgen zu können. Auch ambulante Betreuungen bieten wir im BMRC an.