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Neues EU-Camp für Geflüchtete und Migrant*innen gleicht einem Freiluftgefängnis

Das Geflüchtetencamp Vathy auf Samos in Griechenland war lange Zeit völlig überfüllt. Viele Male haben wir über die inhumanen Umstände dort berichtet: Nicht einmal trinkbares Wasser gab es dort. Nun werden viele der Menschen von Vathy in andere Camps umgesiedelt, doch ihre Umstände verbessern sich nicht – ganz im Gegenteil – und diejenigen, die in Vathy bleiben müssen, fühlen sich vergessen und im Stich gelassen. Stephen Cornish, unser Experte für Projekte für Geflüchtete und Migrant*innen, hat das Camp besucht. 

In den letzten fünf Jahren hat sich auf den griechischen Inseln Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos eine völlig vermeidbare und vorhersehbare, von der Politik gesteuerte humanitäre Krise entwickelt, die verheerende Folgen für die dort eingeschlossenen Menschen hat. Nachdem sie aus ihrer Heimat geflohen sind und eine beschwerliche Reise nach Europa hinter sich gebracht haben, werden die schutzsuchenden Menschen durch die unbefristete Abriegelung, den Schwebezustand und die systematische Gewalt in Griechenland weiter traumatisiert. In einem Report aus Juni 2021 („Constructing crisis at Europe's Borders. The EU plan to intensify its dangerous hotspot approach on Greek islands“) machten wir darauf bereits aufmerksam.

Unser Experte für Geflüchtete und Migrant*innen Stephen Cornish hat sich die Lage in den Geflüchtetencamps auf Samos angeschaut und mit den Menschen vor Ort gesprochen.

 

Mitten im Nirgendwo 

Auch jetzt verschärft die EU und die griechische Regierung ihre Abschottungspolitik und somit die Krise immer weiter. Im Bau befindet sich ein weiteres Camp für Geflüchtete und Migrant*innen auf der griechischen Insel Samos: Es wird Schutzsuchende weiter isolieren und ihre humanitäre Situation verschlechtern. Das Camp liegt mitten im Nirgendwo und wird von drei Zaunreihen und Stacheldraht umgeben. Es soll bis zu 3.000 Menschen aufnehmen, von denen nach Angaben des griechischen Migrationsministers rund 900 in eine Art Gewahrsam genommen werden sollen, um auf ihre Rückführung in die Türkei zu warten.

Diejenigen, die im Lager Vathy bleiben, beschreiben es als "Geistercamp" und fühlen sich im Stich gelassen. Sie leben seit Monaten, und teilweise sogar seit Jahren, unter unmenschlichen Bedingungen an diesem Ort, ohne Gewissheit, was mit ihnen passieren wird.  Nun beobachten sie, wie Einige das Camp verlassen, während sie immer noch dort festsitzen. Die, die zurückbleiben, sind meist alleinstehende Männer und Menschen, deren Asylgesuch abgelehnt wurde. Diese Ungewissheit, ob sie nun weiterhin in Vathy festhängen oder ihnen der Umzug in das neue Camp auf Samos bevorsteht, verschlimmert ihre ohnehin schon schwere Situation. 

Psychische Folgen 

Patient*innen berichten uns immer wieder, wie sie unter der dauerhaften Belastung leiden. Ein Leben unter schwersten Bedingungen: komplizierte Behördenvorgänge und Asylprozeduren, andauernde Unsicherheit, verzweifelte Gewalt, Trennung von Angehörigen, Kinder, die nicht in die Schule gehen können und mangelnde Gesundheitsversorgung.

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Ein Mann mit dem Rücken zur Kamera, vor einer ländlichen Kulisse
Als Qasem Rezaei und seine Töchter 2020 im Camp in Vathy ankamen, erhielten sie lediglich Schlafsäcke, obwohl es regnete. Sein Asylantrag wurde bereits dreimal abgelehnt.
© MSF/Evgenia Chorou

Qasem (37) aus Afghanistan ist einer von ihnen, er ist Vater von zwei kleinen Mädchen: Eine von ihnen ist sechs, die andere acht Jahre alt. Seit letztem Jahr leben sie im Vathy-Camp. 

"Seit Beginn unseres Aufenthalts im Vathy-Camp gab es immer wieder Probleme. Meine Tochter ist durch das, was wir hier erlebt haben, sehr traumatisiert. Sie hat Albträume oder fängt an zu schreien. Wir wissen nicht, wie es weiter gehen wird. Wenn sie uns in das neue Camp auf Samos bringen, werden wir weit weg sein von einem Supermarkt, von einer Apotheke, von einem Anwalt. Wir werden auch nicht mehr in der Stadt spazieren gehen können, um außerhalb des Wahnsinns etwas Ruhe zu haben.   

Wir sitzen hier einfach fest. Mein einziger Wunsch ist, dass mein Asylantrag bearbeitet wird, damit wir unsere Papiere bekommen und einen sicheren Ort in Griechenland oder woanders finden können."

Auch Ali (30) aus Syrien lebt seit November 2019 in dem Camp auf Samos: 

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Stephen Cornish, General Director von Ärzte ohne Grenzen Schweiz, spricht mit Ali Al Ahmed, der seit 2019 im Vathy Camp lebt.
Iin unserer psychatrischen Klinik auf Samos behandeln wir unter anderem Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen. Viele Patient*innen verletzen sich selbst oder unternehmen Selbstmordversuche, darunter auch Kinder.
© MSF/Evgenia Chorou

„Ich habe bereits psychische Probleme, wie die meisten Menschen hier. Es ist normal geworden, sich selbst zu verletzen. Die psychische Gesundheit der meisten Menschen, die hier im Camp leben, hat sich verschlechtert. Können Sie sich vorstellen, dass man Ihnen mitteilt, dass Sie an einen Ort verlegt werden, der wie ein Gefängnis aussieht? Es ist ein geschlossenes Lager. Das ist inakzeptabel. 

Hier gibt es keine Zukunft. Und es gibt keine Zukunft auf dieser Insel.  Wir verlieren bereits unsere grundlegenden Menschenrechte: Rechte, die jeder Mensch haben sollte.”

Leere Versprechen  

Dass die inhumanen Zustände und Ereignisse, wie der Brand im letzten Jahr, im Hotspot Moria auf Lesbos, nicht nur dysfunktional, sondern auch tödlich waren, trägt leider, nach wie vor, nicht dazu bei, die Geflüchteten besser zu schützen beziehungsweise zu versorgen. Wir beobachten, dass Moria offensichtlich sogar als Blaupause für den Bau des Camps auf Samos diente.  

Trotz der Versprechen der EU, etwas zu ändern, und fünf Jahre nach dem EU-Türkei-Abkommen, das die Situation für Geflüchtete und Migrant*innen dramatisch verschärft hat, normalisiert und intensiviert die EU ihre menschenunwürdige Migrationsstrategie. Es werden neue Lager auf den Inseln errichtet. Diese sind stärker abgesichert und isoliert. Mit anderen Worten: Freiluftgefängnisse, die weniger sichtbar sein sollen“, sagt Stephen Cornish.

In den Jahren 2019 und 2020 wurden in den psychiatrischen Kliniken von Ärzte ohne Grenzen auf den griechischen Inseln Chios, Lesbos und Samos 1.369 Patient*innen behandelt, von denen viele an schweren psychischen Erkrankungen wie posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen litten. Mehr als 180 Menschen, die von uns behandelt wurden, hatten sich selbst verletzt oder einen Selbstmordversuch unternommen. Zwei Drittel von ihnen waren Kinder, das jüngste von ihnen war gerade einmal sechs Jahre alt.