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Drei Jahre nach dem großen Exodus: Ein Leben in Ungewissheit

Bereits vor ihrer Vertreibung aus Myanmar 2017 waren die Rohingya staatlich sanktionierter Gewalt, Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt. Grundrechte wurden und werden ihnen verweigert. Mehr als 860.000 Rohingya leben heute unter prekären Bedingungen im größten Geflüchtetencamp der Welt in Bangladesch. Die Covid-19-Pandemie hat ihre Lage seit Beginn des Jahres noch verschärft. Die Hoffnung auf eine Zukunft außerhalb des überfüllten Camps schwindet.

Ich habe Myanmar verlassen, weil mein Haus niedergebrannt wurde. Sie haben gemordet und gefoltert und unsere Frauen schikaniert. Es war nicht sicher.

erinnert sich Abu Siddik an die Vertreibung aus seiner Heimat. „Meine Frau und ich mussten unsere beiden jüngsten Kinder den ganzen Weg tragen. Schließlich überquerten wir den Fluss Naf und kamen in Bangladesch an. Die Einheimischen versorgten uns mit Lebensmitteln und Wasser.“

Drei Jahre liegen die Vertreibungen, die Siddik beschreibt, zurück. Im August 2017 begannen Sicherheitskräfte in Myanmar damit, mehr als 700.000 Rohingya aus dem Bundesstaat Rakhine über die Grenze nach Bangladesch zu treiben. Dort trafen sie auf 200.000 Geflüchtete, die vor früheren Gewaltwellen gegen die Minderheit geflohen waren. Insgesamt leben heute rund 860.000 Menschen im größten Geflüchtetencamp der Welt im Bezirk Cox’s Bazar im Südosten Bangladeschs - auf gerade einmal 26 Quadratkilometern.

Die medizinischen und psychologischen Bedürfnisse sind groß

Unter der Situation leiden Körper und Psyche. Seit drei Jahren leben die Geflüchteten in überfüllten Notunterkünften aus Plastik und Bambus. „Die Mehrheit der Patient*innen, die wir sehen, sowohl Kinder als auch Erwachsene, kommen mit Atemwegsinfektionen, Durchfallerkrankungen und Hautinfektionen. Diese Krankheiten haben meist mit den schlechten Lebensbedingungen zu tun“, erklärt Tarikul Islam, unser medizinischer Teamleiter vor Ort.

Aber auch die Bedürfnisse der Rohingya im Bereich der psychischen Gesundheit sind groß: Arbeitslosigkeit, Zukunftsängste, schlechte Lebensbedingungen und wenig bis gar kein Zugang zu formaler Bildung kommen zu den traumatischen Erinnerungen an die in Myanmar erlittene Gewalt hinzu. Darum umfassen unsere Aktivitäten in den insgesamt zehn Gesundheitseinrichtungen, die wir in Cox’s Basar betreiben, neben Notfall- und Intensivversorgung, Kinderheilkunde oder Geburtshilfe auch psychologische Hilfsangebote. Allein im ersten Halbjahr 2020 haben unsere Teams mehr als 14.250 psychologische Einzelberatungen durchgeführt.

Zusätzliche Herausforderungen durch COVID-19

In dieser ohnehin schwierigen Lage für die Geflüchteten kommen seit diesem Jahr die Herausforderungen durch die Covid-19-Pandemie hinzu. Die erste Infektion wurde am 15. Mai bestätigt. Eine unmittelbare Folge war, dass weniger Menschen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchten. Gerüchte, Fehlinformationen und Angst vor Stigmatisierung hält Patient*innen, die nicht an Covid-19 erkrankt sind, aber eine lebenswichtige Gesundheitsversorgung benötigen, von den Kliniken fern. „Einige Patient*innen gaben die mit Covid-19 zusammenhängenden Symptome nicht offen zu, weil sie dachten, sie würden anders behandelt werden“, sagt Tarikul Islam.

Darum legen wir einen Schwerpunkt unserer Arbeit auf die Aufklärung über das Coronavirus und die Sensibilisierung der Gemeinden für die erforderlichen Maßnahmen. Da die digitalen Möglichkeiten vor Ort eingeschränkt sind und um zu vermeiden, dass sich Menschen in Gruppen zusammenfinden, gehen unsere Einsatzteams von Haus zu Haus – auch in den benachbarten Dörfern.   

Wie soll es weitergehen?

Auch Abu Siddik lebt mit seinen zwei Töchtern, drei Söhnen und seiner Frau seit der Vertreibung im Camp in Cox's Bazar. „Für die Kinder ist es besonders hart“, erzählt er. „In Myanmar gab es freie Flächen, aber hier spielen sie auf den Straßen und das ist gefährlich.“ Seit einiger Zeit schläft der Vater mit einem seiner Söhne in einem Krankenhaus, das wir im Camp betreiben. Raschid wurde angefahren und erlitt Verletzungen am Hinterkopf, eine gespaltene Lippe und eine ausgekugelte Schulter.

„Zudem sind wir finanziell abhängig; alles, was wir tun können, ist, Hilfe zu erhalten. Wir können nicht einmal auf den lokalen Markt gehen“, erzählt Abu Siddik. In Bangaldesch haben die Rohingya keinen Rechtsstatus und können sich keine eigene Existenz aufbauen. Diejenigen, die noch in Myanmar leben, sind dort weiterhin Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt. Und andere Staaten in Südostasien haben in der Vergangenheit wiederholt Boote mit Hunderten von Menschen, die aus den Camps in Bangladesch geflüchtet waren, daran gehindert, an Land zu gehen.

Trotz alledem sehnt sich Abu Siddik nach seiner Heimat: „Ich würde nach Myanmar zurückkehren, wenn meine Rechte garantiert würden.“ Denn seit Covid-19 und den damit verbundenen Maßnahmen ist der Alltag in Bangladesch für die Rohingya noch schwieriger geworden, erzählt der Familienvater:

Jetzt ist unsere Bewegungsfreiheit so stark eingeschränkt, dass wir die Regeln brechen müssen, nur um zu überleben.