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Konflikt in Tigray: "Das Gesundheitssystem ist zerstört"

Hunderttausende Menschen haben ihre Heimat verloren, seitdem im November die Kämpfe in der äthiopischen Region Tigray ausgebrochen sind. Viele von ihnen haben in Shire, einer großen Stadt im Nordwesten der Region, Zuflucht gesucht. Ein großer Teil von ihnen ist innerhalb der Gemeinde untergekommen, doch rund 20.000 Menschen leben in provisorischen Unterkünften unter prekären Umständen. Wir sorgen uns um die Menschen in der Region.

Die Lebensbedingungen in den Notunterkünften sind hart: Viele Menschen schlafen in beengten und unhygienischen Klassenräumen ehemaliger Schulen oder auf dem Campus der Universität. Einige haben von der Gemeinde Matratzen und Decken erhalten, doch viele müssen auf dem Boden oder auf Plastikplanen schlafen.  

Da die Sicherheitslage weiterhin instabil ist, suchen immer mehr Menschen Zuflucht in den Notunterkünften. Ihre wenigen Habseligkeiten tragen sie auf dem Rücken. Einige haben noch immer die gleiche Kleidung an, in der sie ihr Zuhause verlassen haben – mehr als drei Monate später. Einige Frauen berichten, dass sie einen Teil ihrer Kleidung zerreißen mussten, um sich provisorische Binden herzustellen.  

Eine Hungerkatastrophe steht bevor

Zu einer der größten Sorgen zählt der Mangel an Nahrungsmitteln. Dank verschiedener Hilfsorganisationen gibt es zwar inzwischen Lebensmittellieferungen, doch diese reichen nicht aus und werden häufig nicht gerecht aufgeteilt.

Bisher gespendete Lebensmittel umfassten vorwiegend Säcke mit Weizen und etwas Speiseöl. Deswegen essen die meisten Menschen ausschließlich Brot – und das ist nicht nahrhaft genug, besonders für Kinder, Schwangere und kranke Menschen.

Die Maßnahmen gegen Covid-19 bringen Risiken mit sich

Atemwegsinfektionen sind in den Kliniken, die wir seit Januar in den Vertriebenencamps betreiben, die häufigste Todesursache. Ob es Covid-19 ist, weiß niemand so genau, denn es gibt keine Tests und Hygienevorschriften können in den überfüllten Camps nicht eingehalten werden. Durchfall, der durch Mangel an sauberem Trinkwasser und unhygienische Lebensbedingungen begünstigt wird, ist das zweitgrößte medizinische Problem.  

Als Maßnahme gegen die Ausbreitung des Coronavirus gilt für die Menschen ab 18:30 Uhr eine Ausgangssperre. In medizinischen Notfällen sind Betroffene dann auf sich allein gestellt, denn Krankenwagen sind in dieser Zeit ebenfalls nicht verfügbar. Damit werdende Mütter zumindest etwas Hilfe bekommen, stellen wir ihnen Entbindungspakete zur Verfügung, falls ihre Wehen nach Einbruch der Dunkelheit einsetzen. Medizinische Fachkräfte vor Ort, wie Adonay* aus West-Tigray, helfen bei spontanen Entbindungen: „Ich habe sie in den Schlafsälen entbunden, in den Betten der Frauen. Es waren viele Leute da. Es gab keine Privatsphäre."

Die Krankenhäuser nehmen ihre Arbeit langsam wieder auf

Nachdem die Kämpfe in der Stadt ausgebrochen waren, kehrten viele Mitarbeiter*innen des Shire-Krankenhaus, das mehr als eine Million Menschen in der Region versorgt, lange Zeit nicht zur Arbeit zurück. Sie hatten Angst um ihre Sicherheit oder bekamen kein Gehalt mehr.  

Zu Beginn unseres Einsatzes säuberten wir die Klinik und kümmerten uns um Lebensmittel für Angestellte und Patient*innen. Inzwischen ist der Großteil des Personals zurückgekehrt und das Krankenhaus fast wieder voll funktionsfähig. Doch zusätzliche Schwierigkeiten, wie Lieferprobleme bei medizinischem Material, Stromausfälle oder Sicherheitsrisiken, bleiben.

Sexualisierte Gewalt und Verluste von geliebten Menschen traumatisieren die Menschen

Den medizinischen Leiter des lokalen Krankenhauses Dr. Berhane, sorgt am meisten, dass sich Überlebende sexualisierter Gewalt oftmals keine Hilfe suchen können. „Viele Frauen werden vergewaltigt, aber sie suchen keine Hilfe. Die Frauen wollen ins Krankenhaus gehen, aber die Kultur, das Stigma, die sozialen Normen hindern sie daran.“ 

Auch wir kümmern uns um Überlebende sexualisierter Gewalt und bieten in den Vertriebenencamps Beratungs- und Aufklärungsgespräche an. Denn viele Menschen sind durch die erlebte Gewalt, die Vertreibung, die schlechten Lebensbedingungen und den Verlust ihrer Familienmitglieder traumatisiert.  

Menschen in den ländlichen Gebieten sind besonders betroffen

In den ländlichen Gebieten ist die Lage noch viel schlimmer. „Wir leiden unter einem Mangel an medizinischer Versorgung. Wir haben keine Medikamente; die beiden Krankenwagen des Dorfes wurden uns weggenommen. Drei schwangere Frauen sind in den letzten drei Monaten bei der Geburt gestorben", berichtet Birhane*, ein 58-jähriger Bauer, der mehrere Stunden laufen musste, um unsere medizinische Einrichtung zu erreichen.  

„Es gibt keine Lebensmittel im Dorf. Unsere Felder sind geplündert worden. Einige unserer Frauen wurden vergewaltigt. Wir sind seit zwei Monaten im Wald und haben noch immer Angst.“

Ein zusammengebrochenes Gesundheitssystem

Berhe*, eine unserer medizinischen Fachkräfte, erzählt, dass die Region vor Beginn der Kämpfe ein gut funktionierendes Gesundheitssystem hatte. Dörfer verfügten über Gesundheitseinrichtungen und größere Städte über Krankenhäuser. Es gab Gesundheitsberater*innen, die die Gemeinden besuchten und ein Überweisungssystem mit Krankenwagen. Dieses Gesundheitssystem ist heute komplett zerstört.

*Name zum Schutz geändert.