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Rettungsteam auf Samos: „Wir behandeln die Ankommenden mit Würde.“

Auf der griechischen Insel Samos ist ein mobiles Rettungsteam von Ärzte ohne Grenzen im Einsatz, um rasch den Menschen helfen zu können, die hier nach der Überquerung des Mittelmeers stranden. Krankenschwester Elspeth Kendal-Carpenter aus Neuseeland leitet unsere Aktivitäten und erzählt im Interview über die verzweifelte Entscheidung, vor Gewalt und Gräuel zu fliehen, die Auswirkungen des EU-Türkei-Abkommens, unsere medizinische und psychologische Hilfe – und ein Wiedersehen der besonderen Art:

 

Wie ist die Lage auf den Inseln Samos und Agathonisi?

Wir helfen den Menschen, indem wir sie medizinisch untersuchen und gegebenenfalls an eine Gesundheitseinrichtung überweisen sowie ihnen Informationen, Essen, Decken und Kleidung zur Verfügung stellen. Seit im März 2016 das EU-Türkei-Abkommen beschlossen wurde, ist die Zahl der ankommenden Flüchtlinge deutlich zurückgegangen. Doch statt dass die Menschen weiter nach Athen reisen können, um dort ihre Dokumentation innerhalb weniger Tage abzuschließen, müssen mittlerweile mehr als 1.000 Flüchtlinge in einem Auffanglager in Samos leben – das eigentlich nur für eine Kapazität von 280 Personen gebaut wurde.

 

Die Lebensbedingungen haben sich drastisch verschlechtert und diejenigen, die hier festgehalten werden, bekommen kaum Informationen darüber, was passiert oder wie lange sie hier bleiben müssen. Der Zugang zu sauberem Wasser ist oft gefährdet, der Gesundheitszustand von bisher stabilen Menschen verschlechtert sich, und das Risiko der Verbreitung von Infektionskrankheiten steigt. Seit das Aufnahmezentrum geschlossen wurde, haben wir viele unserer Aktivitäten eingestellt. Doch wir entwickeln momentan Pläne für ein Übergangslager, das uns ermöglichen soll, die gefährdetsten Gruppen außerhalb des Lagers zu unterstützen.

 

Was passiert, wenn Menschen hier ankommen?

Wir reagieren auf alle Notrufe, die uns über Ankünfte informiere – meistens nachts und oft nach schrecklichen Überfahrten. Die Menschen sind unterkühlt, verängstigt, unsicher, verwirrt und großem Stress ausgesetzt. Wir haben nur sehr kurz Zeit, bevor die Polizei sie in das Auffanglager transportiert. Wir bieten Decken, Wasser und Kekse an und führen einen kurzen Check ihres Gesundheitszustands durch. Dieses medizinische Screening erlaubt uns, mögliche Notfälle zu erkennen und rasch in ein Krankenhaus zu überstellen.

 

Unser Team unterstützt auch besonders verletzliche Gruppen außerhalb des Aufnahmezentrums, beispielsweise hochschwangere Frauen oder Familien mit kleinen Kindern. Denn obwohl es ihnen verboten ist, die Insel zu verlassen, müssen sie nach 25 Tagen außerhalb des Lagers leben. Wir stellen ihnen Unterkünfte zur Verfügung und leisten medizinische und psychologische Hilfe.

 

Welche Hilfe bietet das Team traumatisierten Menschen an?

Psychologische Hilfe ist sehr wichtig. Manche Menschen mussten in ihren Heimatländern Gräueltaten miterleben. Daher waren sie zur schwierigen Entscheidung gezwungen, ihr Zuhause, ihre Lebensgrundlage, ihre geliebten Menschen zu verlassen, und eine Reise ins Unbekannte zu riskieren – ein verzweifelter Versuch, Sicherheit und Schutz zu finden, um ihr Leben wiederaufbauen.

 

Viele der Geflüchteten kommen hier voller Hoffnung an, die sich jedoch bald in Verzweiflung wandelt, nachdem sich die Zustände immer mehr verschlechtern. Außerdem kommen noch unvorhersehbare Herausforderungen dazu, die einen post-traumatischen Stress auslösen können, für den eine geschulte und verständnisvolle Betreuung notwendig ist.

 

Wir helfen getrennten Familien, unbegleitete Minderjährige werden identifiziert und an Jugendschutz-Einrichtungen überwiesen bzw. in einer separaten Unterkunft untergebracht. Außerdem unterstützen wir diejenigen, die nach einem Bootsunglück Familienmitglieder verloren haben.

 

Kannst du uns eine persönliche Geschichte oder ein Erlebnis erzählen?

Ich erinnere mich an eine Gruppe von 53 Flüchtlingen am Strand. Sie kamen ganz aufgeregt an Land, küssten den Boden, machten Fotos mit uns, die Kinder sprangen im Wasser auf und ab. Ein junger Mann zog sein T-Shirt aus und rannte zu uns: „Ärzte ohne Grenzen!“, rief er, „seht her!“ Er zeigte mir Narben auf seinen Armen und Schultern. „Dr. John von Ärzte ohne Grenzen hat in Jordanien mein Leben gerettet. Ich liebe Ärzte ohne Grenzen.“ Das war ein sehr emotionaler Moment, sowohl für ihn als auch für uns – denn wir mussten ihm sagen, dass er hier eingesperrt und aufgrund der neuen Rahmenbedingungen möglicherweise in die Türkei rücküberführt werden würde. Das war genau an dem Tag, an dem das EU-Türkei-Abkommen implementiert worden war.

 

Kürzlich schaffte es ein Boot mit rund 50 Flüchtlingen – darunter zehn Kinder unter fünf Jahren – der türkischen Küstenwache zu entkommen. Sie zeigten uns entsetzliche Filmaufnahmen auf einem Handy, wie sie von deren Boot gejagt und umkreist worden waren, um sie mit den entstehenden Wellen zum Kentern zu bringen und so zur Umkehr in die Türkei zu zwingen. Ich sah die sehr reale Angst, die sich in ihren Gesichtern spiegelte, und hörte ihre entsetzten Schreie.

 

Wie wichtig ist die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen bei der Bereitstellung von medizinischer Hilfe für Geflüchtete?

Viele der Flüchtlinge, die wir hier treffen, sind physisch gesund; doch die emotionalen Wunden hinterlassen ihre Spuren. Manche Menschen kommen mit chronischen Leiden zu uns wie Diabetes oder Bluthochdruck. Wir können ihren Zustand hier beobachten und ihnen einen Nachschub an Medikamenten bereitstellen. Manche wurden während der Überfahrt traumatisiert und wir versorgen ihre Verletzungen; andere sind durch langfristige Probleme bereits körperlich eingeschränkt – oder kommen sogar in ihren Rollstühlen.

 

Doch wenn wir sie begrüßen und fragen, wie es ihnen geht, bekommen wir von jedem einzelnen Dankbarkeit und Anerkennung. Das Angebot eines Gesundheitschecks gibt ihnen die Chance, wieder zu erleben, dass sich jemand um sie kümmert. Vielleicht zum ersten Mal seit langer Zeit zeigt jemand aufrichtiges Interesse an ihrem Wohlergehen, behandelt sie mit Würde und Freundlichkeit. So wird auf eine gewisse Art und Weise eine abnormale Situation für kurze Zeit wieder „normal“.

 

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