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Tunesien ist kein sicherer Ort für Migrant*innen: Es herrscht ein Klima der Angst und Gewalt

Im Sommer 2023 rettete unser Rettungsschiff Geo Barents auf dem Mittelmeer zahlreiche Menschen aus Seenot, die aus Sfax in Tunesien aufgebrochen waren. Die Geretteten berichteten uns von einem zunehmenden Klima der Angst und Gewalt in dem nordafrikanischen Land. Währenddessen drehen sich die Debatten in Europa vor allem darum, wie flüchtende Menschen noch besser ferngehalten werden können. Dies ist unmenschlich und lässt die persönlichen Schicksale der Menschen völlig außer Acht.

“Im Stadtzentrum von Sfax jagten Sie uns“, sagt eine 32 Jahre alte Frau aus Subsahara-Afrika, die im Juli von der Crew der Geo Barents aus Seenot gerettet wurde. “Sie haben uns geholt und nach Kasserine gebracht, an die Grenze zu Algerien. Es war ihnen egal, ob wir Papiere dabeihatten oder nicht. Ich kann niemandem empfehlen, nach Tunesien zu gehen. Du wirst dich hier niemals sicher fühlen können. Sie können jeden Moment kommen.“

Die jüngste Verschärfung der Situation von Migrant*innen nahm ihren Anfang im Februar 2023, als der tunesische Präsident Kais Saied eine diskriminierende Rede hielt, in der er Afrikaner*innen aus Ländern südlich der Sahara beschuldigte, die Zusammensetzung der Gesellschaft Tunesiens verändern zu wollen. Die Rede verstärkte bestehende rassistische Gefühle in einem Teil der tunesischen Bevölkerung.

Sie haben mich aus meiner Unterkunft in Tunis geworfen. Eines Morgens kam der Besitzer des Hauses und sagte: „Der Präsident hat gesagt, dass ihr nach Hause gehen müsst.“

Bereits vor der Rede des tunesischen Präsidenten war das Leben besonders für Menschen aus Subsahara-Afrika von Diskriminierung und Gewalt geprägt.

Menschenrechtsverletzungen sind schmerzlicher Alltag vieler Migrant*innen

Die Berichte der Geretteten, mit denen unsere Mitarbeitenden auf der Geo Barents über ihre Zeit in Tunesien sprachen, zeichnen ein düsteres Bild.

Die Menschen berichteten uns u.a. von:

  • Willkürlichen Verhaftungen
  • Folter und Erpressung
  • Abschiebungen in die Wüste
  • Gewalt durch die Polizei und bewaffnete Zivilist*innen
  • Zwangsräumungen aus Häusern und Wohnungen

Die Situation in Sfax ist sehr schwierig. Manchmal attackiert dich die Polizei, wenn du auf die Straße gehst. Einmal haben sie mich durchsucht und dabei komplett entkleidet. Ich hatte 700 tunesische Dinar dabei. Sie haben alles genommen“, berichtet ein 26 Jahre alter Mann, der im Juli von der Crew der Geo Barents aus Seenot gerettet wurde.

Tunesien löst Libyen als Startpunkt für die Flucht übers Mittelmeer ab

Seit Anfang 2023 zeichnet sich im zentralen Mittelmeerraum ein neuer Migrationstrend ab, bei dem Tunesien Libyen als Hauptabfahrtsort für die Überfahrt nach Europa abgelöst hat. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2023 verließen 55 Prozent der Menschen, die über die zentrale Mittelmeerroute in Italien ankamen, die nordafrikanische Küste von Tunesien aus. Das entspricht einem Anstieg um mehr als das Doppelte gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2022. Auch die Zahl der von der tunesischen Küstenwache aufgegriffenen Personen hat in den letzten Jahren zugenommen. In der ersten Jahreshälfte 2023 wurden mehr als 31.000 Menschen nach Tunesien zurückgebracht.

Ausgelagert statt gelöst: Über Migrationspakte und Menschlichkeit

Während unsere Teams mit der Geo Barents, dem Seenotrettungsschiff von Ärzte ohne Grenzen, 421 aus Tunesien geflohene Menschen retteten, schlossen europäische und tunesische Politiker*innen Mitte Juli eine "strategische Partnerschaft" mit einem Finanzierungspaket von bis zu eine Milliarde Euro für Tunesien ab, darunter 105 Millionen Euro für "Grenzmanagement". Finanziert werden damit etwa neue Schiffe für die Küstenwache, mit denen Menschen gegen ihren Willen abgefangen werden sollen. Und dass, obwohl Tunesien kein sicherer Ort für die auf See geretteten Menschen ist.

Es ist dringend erforderlich, dass die EU-Mitgliedstaaten die Umsetzung der Vereinbarungen zum Grenzschutz mit Tunesien stoppen. Es ist inakzeptabel, Abkommen zu schließen, die keine Rechenschaftspflicht oder Garantien gegen Menschenrechtsverletzungen gegen Migrant*innen beinhalten.

Humanitäre Hilfe entlang der EU-Außengrenzen

Wir versorgen entlang der europäischen Außengrenzen Menschen auf der Flucht – oft leben sie unter widrigsten Umständen und sind der drohenden Gefahr von Gewalt schutzlos ausgesetzt. Ihr Zugang zu sanitären Einrichtungen ist oft sehr begrenzt und sie haben keine Möglichkeit, medizinische Hilfe zu bekommen.

Wir erleben in unserer Arbeit im Mittelmeerraum täglich die negativen Auswirkungen, die eine europäische Abschottungs- und Abschreckungspolitik auf die Gesundheit der Menschen hat. Wir kritisieren diese Politik aufs Schärfste, etwa den EU-Türkei-Deal, die Pushbacks in Griechenland sowie die illegalen Rückführungen von Menschen durch die libysche Küstenwache, unterstützt und finanziert durch Italien und die Europäische Union. Diese Maßnahmen führen die Menschen oft in einen Kreislauf von Gewalt, Missbrauch und Verzweiflung und verhindern, dass sie die Sicherheit und den Schutz erhalten, die sie benötigen.