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Hilfe für Überlebende von Folter: Wie es gelingen kann, Suizid-Gedanken, Alpträume, Aggressionen und Verzweiflung loszuwerden

Ziel unserer Arbeit mit Überlebenden von Folter ist, dass Betroffene wieder an ihre eigenen Stärken glauben und erneut positive soziale Beziehungen führen können.

Die Erfahrung von Folter kann eine Person körperlich wie psychisch zerstören, ihr Grundvertrauen nachhaltig erschüttern und zur Folge haben, dass ihre Verbindung zur Gesellschaft gekappt wird. Wir unterstützen Überlebende von Folter und Missbrauch in mehreren Projekten mit einem fachübergreifenden Ansatz. Damit kann es gelingen, dass Betroffene ihre schlimmen Erfahrungen verarbeiten können, wieder an ihre eigenen Stärken glauben und erneut positive soziale Beziehungen führen können. Gianfranco De Maio ist verantwortlich für die medizinischen Aktivitäten in unseren Zentren für Überlebende von Folter weltweit. Er erzählt, was die Menschen durchleben, wie die komplexe Hilfe konkret aussieht und weshalb das Geschenk eines bunten Koffers beim Abschied aus dem Therapie-Programm Klienten zu Tränen rühren kann.

Warum behandelt Ärzte ohne Grenzen Überlebende von Folter und Misshandlung nicht im Krankenhaus sondern in speziellen Zentren? 

Unsere Teams behandeln Überlebende von Folter an vielen verschiedenen Orten auf der ganzen Welt. In Zentralafrika, Mexico und Europa, um nur ein paar zu nennen. 

Wenn man nur die physischen Symptome von Folter behandelt, erfasst man das Problem nicht in seiner ganzen Komplexität. Das ist der Grund, warum wir uns für einen anderen Ansatz - einen wirklich fachübergreifenden - entschieden haben. Die medizinische Antwort allein reicht nicht. Die psychologische Antwort allein reicht nicht. Soziale und rechtliche Angelegenheiten müssen ebenso berücksichtigt werden. In unseren Rehabilitationszentren können wir genau das anbieten, und ich denke, wir machen das sehr erfolgreich. 

Warum bezeichnet Ärzte ohne Grenzen Patientinnen und Patienten als „Überlebende“ und nicht einfach als „Opfer“?

Wenn man Menschen, die gefoltert wurden, „Opfer“ nennt, werden sie als schwach stigmatisiert. Aber sie sind nicht schwach! Ganz im Gegenteil! Wenn wir Patienten behandeln, sehen wir, dass diese Menschen sehr stark sind. Sie haben Grausames erlebt, aber sie finden ihren Weg zu uns und bringen die Fähigkeit auf, mit ihrem Leben weiterzumachen. Deshalb nennen wir sie „Überlebende“. 

Was ist mit dem fachübergreifenden Ansatz in der Arbeit von Ärzte ohne Grenzen gemeint?

In den Zentren arbeiten wir in Fünfer-Teams: eine Ärztin/ ein Arzt, eine kulturelle Vermittlerin/ ein kultureller Vermittler, eine Sozialarbeiterin/ ein Sozialarbeiter, eine Physiotherapeutin/ ein Physiotherapeut und eine Psychologin/ ein Psychologe. Zunächst spricht jeder allein mit dem Patienten. Im Anschluss treffen sie sich und diskutieren gemeinsam, um einen angemessenen Behandlungsplan aufzusetzen. Fachübergreifend meint dabei, dass alle Aspekte des Lebens der Patienten mit bedacht werden: Zum Beispiel ändert der Arzt womöglich seine Ansicht, wie ein Patient am besten zu behandeln ist, nachdem er die Meinung der Sozialarbeiterin gehört hat. Bevor die individuellen Sitzungen starten – Physiotherapie, rechtliche Beratung, medizinische Behandlung etc. – fragen wir auch die Patienten, was sie wollen und worauf die Behandlung ihrer Meinung nach eingehen sollte. Das Ziel ist, dass die Überlebenden von Folter damit beginnen, ihre Autonomie wiederzuerlangen. Es ist unmöglich zu sagen: „Du brauchst fünfzehn psychiatrische Sitzungen und dann bist du geheilt.“ Es ist kein quantitativer Ansatz, es geht um die Qualität des Ergebnisses.

Wie kommen die Patienten und Patientinnen zu Ärzte ohne Grenzen?

In Rom zum Beispiel sind wir in Kontakt mit den öffentlichen Institutionen, die sich den ankommenden Flüchtlingen und Vertriebenen widmen. Sie überweisen Patienten zu uns. An anderen Orten, wie in Mexiko, arbeiten wir mit privaten Organisationen und dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) zusammen. Mittlerweile haben viele von unseren Zentren gehört und kommen auf eigene Initiative. 

 

Patienten beschreiben sehr distanziert, was ihnen widerfahren ist - ein Schutzmechanismus

 

Es wurde bereits erklärt, dass Folter mehr bedeutet, als physische Auswirkungen. Wie beschreiben Überlebende selbst, was Folter für sie ist und wie sie sich auswirkt?

Besonders auffällig ist, dass Patienten Ihre Erlebnisse sehr distanziert und kalt beschreiben, so als ob sie über jemand anderen sprechen und nicht über sich selbst. Das ist ein Schutzmechanismus – man will überleben, also distanziert man sich. Es mag womöglich um sexuelle Gewalt gehen, aber man tut so, als ob es um etwas ginge, das einen nicht betreffe. Das ist aber nur der erste Schritt. Wenn die Patienten beginnen, sich zu öffnen, reden sie über das, was passiert ist, manchmal in äußerst dramatischer Art und Weise. Manchmal scheint es, als seien sie in Trance, als ob die Vergangenheit gerade in diesem Moment passiere. Sie sagen dann Dinge, wie: „Sie sind hier. Sie kommen, um mich zu holen. Haltet sie auf!“

Wie reagiert der Arzt oder Therapeut in einer solchen Situation?

Manchmal muss der Therapeut „mitspielen“ und sich so verhalten, als sei der Folterer anwesend. Er oder sie kann dann z.B. sagen „Stop!“ Für den Patienten scheint der Folterer ja wirklich anwesend zu sein. In einigen Sessions haben wir drei Sitze – einen für den Klienten, einen für den Therapeuten und einen leeren für den abwesenden Folterer. Denn einer der Wege, um das Leid der Überlebenden zu lindern, ist die Logik des Folterers zu begreifen. Warum haben sie mich ausgezogen und erniedrigt? Weshalb haben sie mich auf meine Fußsohlen geschlagen? Warum haben sie an meinen Fingern und meinen Genitalien Elektroden befestigt? Was sind meine Erinnerungen daran? Es geht darum, das, was passiert ist, zu rationalisieren. Denn die Botschaft des Folterers ist: es ist deine Schuld, dass du misshandelt wirst. Um aus dieser Haltung rauszukommen, muss man den abwesenden Folterer damit konfrontieren können.

Wie definiert Ärzte ohne Grenzen in diesem Zusammenhang Rehabilitation?

Zunächst geht es bei der Rehabilitation darum, ein positives Verhältnis zwischen einem Patienten oder einer Patientin und einem Profi aufzubauen, der sich um dessen Belange kümmert, sei es unter medizinischen, legalen oder psychischen Aspekten.

Es gab beispielsweise einen Patienten, der vom schlechten Geruch in dem Aufnahmezentrum beeinträchtigt wurde, in dem er lebte. Das hört sich zunächst vielleicht lächerlich an, doch der Geruch war der gleiche wie an dem Ort in Libyen, an dem er gefoltert wurde. Der Geruch erinnerte ihn immer wieder an Gewalt und Grausamkeit. Das konnten wir regeln, indem wir die entsprechenden Leute darum baten, dafür zu sorgen, dass der Geruch verschwand.

Selbst kleine Veränderungen helfen einem Patienten, wieder Vertrauen in andere zu entwickeln und Suizid-Gedanken, Alpträume, Aggressionen und Verzweiflung loszuwerden. Sie beginnen wieder an ihre eigenen Stärken zu glauben und Vertrauen neu aufzubauen. Das ist Rehabilitation.

Manchmal entwickeln wir vor der Entlassung eines Patienten den Wunsch, diesen Anlass besonders zu begehen. Ich erinnere mich daran, wie unser Team mit einem Geschenk für einen Patienten zusammenkam, der – wie so viele – eine lange und schwierige Flucht hinter sich hatte. Wir gaben ihm einen farbenfrohen Koffer als Symbol für den Übergang in eine neue Phase seines Lebens. Ein Leben, in dem er wieder selbstständig sein und neue positive soziale Beziehungen aufbauen würde. Unser Patient erfasste die Bedeutung des Koffers absolut und war extrem gerührt. Er weinte zwei Stunden lang, weil er merkte, dass wir sein Leid erkannt hatten und dass ihm dies ermöglicht hatte, weiterzumachen.

Allein im Frühjahr 2018 haben 182 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mehr als 950 Überlebende von Folter behandelt. Viele unserer Patientinnen und Patienten sind aufgrund von Gewalt und Verfolgung aus ihrer Heimat geflohen. Andere haben Folter und Misshandlung auf der Flucht selbst erlebt. In unseren Zentren behandeln wir zurzeit viele Menschen aus Syrien, Sudan, Südsudan, Eritrea, Äthiopien, Somalia sowie Menschen aus dem Senegal, Gambia und Guinea. In unseren europäischen Zentren behandeln wir zurzeit insbesondere Patientinnen und Patienten aus Afghanistan. 

20. Juni 2018