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D.R. Kongo: "Das halbe Dorf war einfach verschwunden."

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Ulrich Crépin Namfeibona

Ulrich Crépin Namfeibona

Ich bin Mikrobiologe und habe einen Masterabschluss in Internationaler Kooperation. Mit Ärzte ohne Grenzen bin ich seit 2013 im Einsatz, bisher in der Demokratischen Republik Kongo, in Niger, Südsudan, Mali, Yemen, Burkina Faso und Kamerun.

Früh am Morgen kam der Anruf von den Behörden: Nyamukubi und Bushushu, zwei Dörfer mit insgesamt rund 14.000 Einwohnern im Gebiet Kalehe in der Provinz Süd-Kivu im Osten der Demokratischen Republik Kongo, waren in der Nacht von Überschwemmungen und Erdrutschen heimgesucht worden. Wir sprachen mit den Gemeindevorstehern und dem örtlichen Gesundheitspersonal und schnell wurde klar, dass wir vor einer großen Katastrophe standen.

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Hilfe auch in entlegenen Orten
Abgelegene Orte oder auch Orte, die durch Naturkatastrophen abgeschnitten sind, erreichen wir statt mit dem Auto, mit Motorrädern oder auch per Boot.
© Michel Lunanga/MSF

Wir begannen unverzüglich mit den Vorbereitungen und am nächsten Tag ging es los: Mit dem Motorrad fuhr ich mit einem Team von Minova nach Nyamukubi; das andere Team fuhr mit dem Auto von unserer Basis in Bukavu, der Provinzhauptstadt, nach Bushushu und hatte Medikamente und medizinisches Material für die Behandlung von Verwundeten sowie Leichensäcke dabei.

Gefangen zwischen Extremwetterlagen

Der Schock war groß als wir in Nyamukubi ankamen: Das sonst so lebendige Dorf, in dem wir oft Halt gemacht hatten, war schwer zerstört. Mehr als die Hälfte der Gebäude und Infrastruktur war weggespült worden: die Häuser, der Markt, die Felder, das Vieh, das Wassersystem... Alles lag in Trümmern und war zerstört.

Am Tag zuvor hatte in Nyamukubi der Wochenmarkt der Region stattgefunden: Die Besucher*innen aus Bukavu und Goma hatten die Einwohnerzahl verdoppelt. Die Fluten und Erdrutsche kamen für alle überraschend. Nach dem ersten Erdrutsch flohen viele Menschen, aber der Fluss trat über die Ufer und es gab keine Möglichkeit zu entkommen, während starker Regen weiter anhielt.

Mehr als 400 Menschen haben bei der Naturkatastrophe in der Nacht vom 4. auf den 5. Mai 2023 ihr Leben verloren.

Schritt eins: Das Chaos ordnen

Alle verbliebenen Dorfbewohner schienen im Gesundheitszentrum in Nyamukubi zu sein. Als wir ankamen, waren die Räume voller Verletzter - sie lagen auf den Betten, dem Boden und drum herum die Angehörigen. Es herrschte Panik, die Menschen weinten und schrien, und das örtliche Gesundheitspersonal kam mit der Versorgung nicht hinterher.

Als Erstes halfen wir, die Menschenmenge zu ordnen und die Patient*innen einzuteilen. Wir stellten fest, welche Patient*innen in einem kritischen Zustand waren und zur Behandlung in ein größeres Krankenhaus gebracht werden mussten, und welche Patient*innen mittelschwer verletzt waren und vor Ort behandelt werden konnten. 

Zwei Patient*innen mit Kopfverletzungen starben kurz nach unserer Ankunft.

In Bushushu fand das zweite Team eine sehr ähnliche Situation vor. Dutzenden Verletzte mussten aus dem Dorf Bushushu nach Kalehe verlegt werden.

Schnell denken und Lösungen finden

Wir mussten schnell denken und handeln, denn wir standen vor einer großen Herausforderung: Die Hauptstraße, die durch das Katastrophengebiet führt, war durch den Erdrutsch und die Wassererosion abgeschnitten worden und unbenutzbar. Mithilfe der Gemeinde konnten wir den Besitzer eines kommerziellen Bootes ausfindig machen, das täglich über den Kivu-See nach Goma fährt. 

Wir mieteten das Boot und passten die Ausstattung etwas an, indem wir einige Sitze verschoben, um die Patient*innen in die richtige Position bringen zu können. Am selben Tag noch brachten wir so 16 Schwerverletzte von Nyamukubi nach Kalehe. Sie hatten offene und geschlossene Frakturen an den Gliedmaßen, am Körper, sogenannte  Polytraumen, mehrer Verletzungen, von denen mindestens eine oder die Summe der Verletzungen lebensgefährlich ist. 

Da wir nur genug Treibstoff für eine kurze Fahrt hatten, brachten wir sie zunächst zum Hafen von Kalehe. Von dort ging es dann mit Autos weiter: Wir fuhren mehrfach hin und her auf einer beschädigten unbefestigten Straße, um sie zum Krankenhaus der Stadt zu bringen. Am folgenden Tag, konnten wir weitere 28 Patient*innen in einer vierstündigen Bootsfahrt in das Krankenhaus der Provinz Bukavu bringen - unter ihnen mehrere Kinder und schwangere Frauen. 

In den folgenden Tagen führten wir in Zusammenarbeit mit den Gesundheitsbehörden und anderen Organisationen weitere Evakuierungen von Schwerverletzten aus den betroffenen Gebieten nach Bukavu durch. Insgesamt haben wir 41 Patient*innen in das Provinzkrankenhaus in Bukavu gebracht.

Es war eine äußerst schwierige Operation, bei der mitunter schwere Entscheidungen getroffen werden mussten. Wir konnten nicht immer alle Angehörigen mit an Bord nehmen. Und viele Patient*innen hatten geliebte Menschen verloren. Irgendwann hörte ich auf, sie nach dem Verbleib ihrer Angehörigen zu fragen.

Was tun, wenn man kein Zuhause mehr hat?

In den von der Flutkatastrophe betroffenen Dörfern blieben einige leicht verletzte und entlassungsbereite Patient*innen zurück. Die Gesundheitszentren waren außerdem zu einem Zufluchtsort für Vertriebene geworden.
Andere Menschen suchen Schutz in Kirchen, Schulen und anderen Verwaltungsgebäuden, die noch stehen.

Heute beherbergen die Menschen, deren Häuser nicht zerstört wurden, bis zu fünf Familien. Einige Dorfbewohner*innen sind auf den Hügel gezogen und haben dort Behelfsunterkünfte eingerichtet, während viele andere in nahe gelegene Dörfer abgewandert sind.

Geborgen werden jetzt nur noch Tote

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Suche nach Überlebenden
Die Suche nach Menschen, die von den Fluten mitgerissen wurden, geht weiter. Inzwischen gibt es keine Hoffnung mehr sie lebend zu bergen.
© MSF/Moses Sawasawa

Bislang wurden mehr als 400 Tote bestätigt, doch die örtlichen Behörden schätzen, dass noch mehrere Tausend Menschen vermisst werden, insbesondere in Nyamukubi. Die Hoffnung, sie lebend zu finden, schwindet. Aber die Suche nach den Toten, die vom kongolesischen Roten Kreuz und der lokalen Gemeinschaft geleitet wird, geht unvermindert weiter - erschwert durch fehlende logistische Mittel zur Bewältigung einer Katastrophe dieses Ausmaßes.

Mehrere NGOs und UN-Organisationen sind in der Stadt Kalehe eingetroffen und leisteten Hilfe. Der dringendste Bedarf an humanitärer Hilfe besteht in Unterkünften, Trinkwasser, lebenswichtigen Hilfsgütern, Nahrungsmitteln, Schutz für die vielen Kinder, die ihre Eltern verloren haben, und psychosozialer Unterstützung bei der Bewältigung dieser Tragödie. Wir von Ärzte ohne Grenzen bleiben wachsam, was den Zustand der Verwundeten und andere medizinische Bedürfnisse angeht, die entstehen könnten.