Geschichte: 2015 - 2016

Seit 2006 wurden in unserem Krankenhaus in Amman mehr als 9.000 Operationen durchgeführt. Diese Behandlungszahlen sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein in Anbetracht der zahlreichen Kriegsopfern in der Region.
Alessio Mamo / Médecins Sans Frontières
2016
- Anfang des Jahres beschäftigt uns die Situation in der belagerten syrischen Stadt Madaja. Von Ärzte ohne Grenzen unterstützte Mediziner berichten von Todesfällen durch Verhungern. Auch im Februar gibt es immer wieder alarmierende Nachrichten aus Syrien: Angesicht anhaltender Gewalt und Zehntausender Geflüchteter steht das Gesundheitssystem der Region Asas im Norden Syriens vor dem Zusammenbruch. Die wenigen in der Region noch verbliebenen Gesundheitseinrichtungen werden bei Luftangriffen immer wieder getroffen, und auch medizinisches Personal ist auf der Flucht. Beim Beschuss einer von uns unterstützten Klinik in der Provinz Idlib sterben mindestens elf Menschen. Wir rufen die Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen dazu auf, die von ihnen beschlossenen Resolutionen einzuhalten und das Massensterben in Syrien zu stoppen. Sie müssen sicherstellen, dass ihre Verbündeten die Zivilbevölkerung schützen und Kämpfe in von Zivilisten bewohnten Gebieten vermeiden. In einem Bericht dokumentieren wir Verletzte und Todesopfer unter der Zivilbevölkerung, basierend auf den medizinischen Daten aus 70 Krankenhäusern im Nordwesten, Westen und im Zentrum Syriens, die wir unterstützten. Demnach wurden im Jahr 2015 insgesamt 154.647 Kriegsverletzte und 7.009 Tote in diesen Einrichtungen registriert. Angriffe auf medizinische Einrichtungen beklagt Ärzte ohne Grenzen auch im Jemen.
- Südsudan: Nach dem schockierenden Angriff auf die UN-Schutzzone in Malakal am 17. und 18. Februar ruft Ärzte ohne Grenzen zum Schutz der Zivilbevölkerung und zu mehr Hilfeleistungen auf. Zahlreichen Berichten zufolge, die wir nach den dortigen Kämpfen erhalten haben, wurde einer unserer Mitarbeiter getötet, während er versuchte, Verletzten Hilfe zu leisten. Andere Berichte weisen darauf hin, dass Menschen, die versuchten, Flammen zu löschen oder den Verwundeten zu helfen, gezielt angegriffen oder beschossen wurden. Im April warnen wir in einem offenen Brief vor einem landesweiten Medikamentenmangel im Südsudan: Internationale Geber und humanitäre Organisationen müssen umgehend handeln und diesen Medikamentenmangel beseitigen.
- Im März bereitet Ärzte ohne Grenzen die Übergabe des Familien-Zentrums in Papua-Neuguinea vor. Unsere Teams leisteten in dem Land vertrauliche und ganzheitliche medizinische und psychosoziale Hilfe für Überlebende familiärer und sexueller Gewalt. Seit dem Jahr 2009 haben wir u.a. fast 28.000 Betroffene versorgt, oft in Zusammenarbeit mit der Nationalen Abteilung für Gesundheit. Der von uns erstellte Bericht „Return to Abuser“ zeigt Lücken im Gesundheitssystem von Papua-Neuguinea auf. Er dokumentiert, wie der Mangel an Schutzmechanismen, eine schwache Justiz sowie fehlende Strafverfolgung die Gesundheit und das Leben der Betroffenen gefährden. Viele Überlebende müssen trotz mehrmaliger Übergriffe wieder zu ihren Peinigern zurückkehren.
- Ebenfalls im März beklagt Ärzte ohne Grenzen die unhaltbare Situation für die mehr als 11.000 Flüchtlinge in Idomeni, an der griechisch-mazedonischen Grenze. Unsere Teams behandeln sehr viele Patientinnen und Patienten, deren Gesundheitsprobleme meist eine direkte Folge der unzureichenden hygienischen Bedingungen und der fehlenden Unterkünfte sind. Außerdem treffen wir die schwierige Entscheidung, ab sofort alle Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Erstaufnahmelager in Moria auf der Insel Lesbos auszusetzen. Die Entscheidung folgt dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei, das zur erzwungenen Rückführung von Migranten und Asylbewerbern von der griechischen Insel in die Türkei führen wird. Im Mai warnen wir in einem offenen Brief an die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union vor den dramatischen Folgen des EU-Türkei-Abkommens, das die Rechte Schutzsuchender beschädigt und humanitäre Hilfe instrumentalisiert.
- Anlässlich der jährlichen Aktionärsversammlung des Pharmaunternehmens Pfizer fordert Ärzte ohne Grenzen niedrigere Preise für Impfstoffe gegen Pneumokokken. Dazu übergeben wir dem Unternehmen in New York eine Petition für bezahlbare Impfstoffe, die mehr als 370.000 Menschen weltweit unterzeichnet haben. Pneumokokken sind der Hauptverursacher von Lungenentzündung, der häufigsten Todesursache bei Kindern unter fünf Jahren. In der zweiten Jahreshälfte werden erste Erfolge erzielt: Sowohl GlaxoSmithKline (GSK) als auch Pfizer haben angekündigt, für humanitäre Organisationen in Krisensituationen ihre Preise zu senken.
- Ärzte ohne Grenzen betreibt im Jemen 30 Krankenhäuser in acht Provinzen. Seit März 2015 wurden im Jemen mehr als 40.000 Kriegsverletzte in von uns betriebenen und unterstützten Krankenhäusern behandelt (Stand 6/2016). Trotz zwischenzeitiger Waffenruhe wird im Jemen weiterhin gekämpft – ein Beispiel dafür ist Tais, wo wir allein am 3. Juni 122 Verwundete in die von uns unterstützten Einrichtungen aufnehmen – die meisten waren bei einem Raketenangriff auf einen belebten Markt verwundet worden. Wir rufen alle Kriegsparteien dazu auf, die Zivilbevölkerung zu schützen und humanitären Organisationen in der Stadt uneingeschränkten Zugang zu Bedürftigen zu ermöglichen.
- Wegen der Abschottungspolitik der Europäischen Union beschließt Ärzte ohne Grenzen, keine Gelder mehr bei der EU und ihren Mitgliedstaaten zu beantragen. Wir verzichten damit auf Finanzierungen in Höhe von derzeit rund 50 Millionen Euro jährlich und setzten verstärkt auf Privatspender. (Ärzte ohne Grenzen finanziert sich zu 92 Prozent aus Privatspenden.) Der Anteil institutioneller Gelder liegt bei knapp 7 Prozent. Wir begründen unsere Entscheidung damit, dass wir in unseren Projekten Tag für Tag sehen, welches Leid die aktuelle EU-Politik verursacht. Im EU-Türkei-Deal sehen wir z.B. einen Präzedenzfall für die Politik anderer Staaten jenseits der EU. So sind die EU-Staaten durch ihre Abschottung zur Türkei mit dafür verantwortlich, dass im Norden Syriens rund 100.000 Vertriebene nur wenige Kilometer entfernt von der Front mit dem so genannten Islamischen Staat an der türkischen Grenze festsitzen, die ebenfalls geschlossen ist. 8.000 Schutzsuchende sind wiederum in überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln festgesetzt – darunter viele Kriegsflüchtlinge – die mit der Abschiebung in die Türkei rechnen müssen.
- Nigeria: Eine halbe Million Menschen im Bundesstaat Borno im Nordosten Nigerias braucht umgehend Hilfe. Die dortigen Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Boko Haram führen dazu, dass Menschen durch Kämpfe vertrieben werden und monatelang von der Außenwelt abgeschnitten leben. Sie brauchen umgehend Wasser, Nahrung, medizinische Hilfe und Unterkünfte. Wir versorgen z.B. in Banki vom 20. bis 22. Juli mehr als 4.900 Kinder mit therapeutischer Nahrung und impfen sie gegen Masern. 3.600 Familien bekommen Nahrungsmittel-Nothilfe und sechs Menschen in lebensbedrohlichem Zustand werden in ein Krankenhaus in die kamerunische Stadt Mora gebracht. Wir weiten wegen der Krise in Borno nicht nur unsere Aktivitäten in Nigeria aus, sondern auch die im Tschad, in Kamerun und im Niger. Zudem fordern wir einen massiven Hilfseinsatz.
2015
- Anfang Februar fordert Ärzte ohne Grenzen angesichts von tödlichen Schiffstragödien im Mittelmeer die EU dringend auf, nicht länger das Leben Tausender Menschen zu gefährden. Die Organisation verweist auf die Einstellung der italienischen Mittelmeer-Rettungsaktion „Mare Nostrum“ im vergangenen Jahr. Seenotrettung ist unbedingt notwendig, wenn Menschen auf der Flucht keine andere legale Möglichkeit haben, Europa zu erreichen. Wir fordern eine Änderung der europäischen Migrations- und Grenzpolitik. Am 20. April verweisen wir darauf, dass allein in der Woche zuvor 11.000 Menschen ihr Leben riskierten, um das Mittelmeer zu überqueren - mehr als Tausend starben vermutlich dabei. Für die Organisation ist angesichts des Sterbens der Zeitpunkt erreicht, selbst mit humanitärer Hilfe aktiv zu werden: Im Mai startet der erste Einsatz eines Teams von Ärzte ohne Grenzen auf einem Rettungsschiff im Mittelmeer. Im Laufe des Jahres sind wir auf drei Schiffen aktiv, von denen eines in Kooperation mit einer anderen Organisation betrieben wird.
- Ärzte ohne Grenzen betreibt sechs Krankenhäuser in Syrien und unterstützt mehr als 150 Gesundheitsposten und provisorische Kliniken. Wir helfen auch Menschen aus Syrien, die nach Jordanien, in den Libanon und den Irak geflohen sind. Immer wieder machen wir auf die unhaltbare Situation in Syrien aufmerksam: So berichten syrische Mediziner im Nordwesten Syriens, dass bei einem Angriff mit Chlorgas am 16. März sechs Menschen getötet und 70 weitere verletzt wurden. Die Angriffe fanden rund um die von Rebellen kontrollierte Stadt Sarmin in der Region Idlib statt. Ärzte ohne Grenzen unterstützt das Krankenhaus von Sarmin. Im August fordern im belagerten Ost-Ghouta heftige Bombardierungen an 20 aufeinanderfolgenden Tagen extrem viele Opfer. In 13 provisorischen Krankenhäusern, die wir in der Region unterstützen, wurden vom 12. bis 31. August täglich mehr als 150 Menschen mit Kriegsverletzungen behandelt. Allein im Oktober wurden im Norden Syriens 12 Krankenhäuser bei Bombenangriffen getroffen, darunter sechs, die von Ärzte ohne Grenzen unterstützt werden.
- Nach dem Erdbeben in Nepal im April sind unsere Teams per Helikopter und zu Fuß in entlegene Bergregionen unterwegs. Viele dieser Dörfer sind von der Außenwelt abgeschnitten. Zeitweise sind rund 120 unserer Mitarbeiter im Erdbebengebiet im Einsatz. Die Teams leisten medizinische Basisversorgung, unterstützen Krankenhäuser mit Materialien und Personal, errichten temporäre Kliniken und operieren Verletzte. Mehr als 80 Tonnen Material und Hilfsgüter werden eingeflogen, darunter auch ein aufblasbares Krankenhaus.
- Ende März veröffentlicht Ärzte ohne Grenzen den Bericht „Pushed to the Limit and Beyond“, in dem beschrieben wird, wie die Ebola-Epidemie die Schwäche der Gesundheitssysteme in ärmeren Ländern und die Schwerfälligkeit der internationalen Hilfe offenbart hat. Der Bericht kritisierte die „globale Allianz der Untätigkeit“ in der ersten Phase des Ausbruchs 2014: Trotz unserer wiederholten Hilfsgesuche dauerte es mehrere Monate, bis die internationale Gemeinschaft reagierte. Im Mai wird in Liberia das offizielle Ende der Ebola-Epidemie verkündet - wir mahnen zur Wachsamkeit, da es in den Nachbarländern Guinea und Sierra Leone noch immer Neuinfektionen gibt. Im Laufe des Jahres wird es in Liberia tatsächlich zu weiteren Neuinfektionen kommen. Anlässlich des G7 Gipfels fordern wir die Entwicklung eines effizienten Notfallsystems gegen Epidemien und internationale Gesundheitskrisen. Die reichen Industriestaaten sollen sicherstellen, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) künftig schneller und umfassender auf Epidemien reagieren kann. Sie müssen dringend die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen gegen vernachlässigte Krankheiten finanzieren.
- Am 3. Oktober 2015 wird unser Krankenhaus im afghanischen Kundus mehrfach von einem Flugzeug des US-Militärs bombardiert und zerstört. Die Angriffe töten 42 Menschen, darunter 14 unserer Mitarbeiter, 24 Patienten und vier Begleitpersonen. Dutzende werden verletzt. Die GPS-Koordinaten des Krankenhauses waren auch dem amerikanischen Militär bekannt gewesen. Nach dem Beginn der Bombardierung versuchen Mitarbeiter verzweifelt, über Telefonanrufe bei den Militärbehörden die Luftangriffe zu stoppen. Wir hatten mit allen Konfliktparteien vereinbart, dass die Neutralität des Krankenhauses gemäß den Regeln des humanitären Völkerrechts respektiert werden würde. Im November wird ein eigener Untersuchungsbericht veröffentlicht, demzufolge es keine Erklärung dafür gibt, warum das Krankenhaus angegriffen worden sein könnte. Wir bestehen auf einer unabhängigen internationalen Untersuchung der Ereignisse. Unser Krankenhaus in Kundus war die einzige Einrichtung dieser Art im Nordosten von Afghanistan. Es bot lebensrettende chirurgische Hilfe an. Mit der Zerstörung der Klinik verliert die Bevölkerung eine wichtige medizinische Einrichtung.
- Ukraine: Ende Oktober erzwingen die Behörden der selbsternannten Volksrepublik Donezk die Einstellung der medizinischen Hilfe von Ärzte ohne Grenzen. Für die Entziehung der Zulassung in Donezk wurde keinerlei Begründung genannt. Bis dahin hatten wir alle Tätigkeiten mit den Behörden koordiniert. Ärzte ohne Grenzen bekräftigt die Bereitschaft, diese Kooperation zum Wohl Tausender hilfsbedürftiger Menschen fortzusetzen. Seit Beginn des Konflikts im Mai 2014 hatten wir Arzneimittel und Material an 170 medizinische Einrichtungen gespendet, damit Kriegsverletzte und chronisch kranke Menschen versorgt werden konnten. Zusammen mit den lokalen Gesundheitsbehörden hielt die Organisation seit März 2015 über 85.000 Sprechstunden ab.
- Im November startet Ärzte ohne Grenzen zum Welttag zur Bekämpfung der Lungenentzündung eine weltweite Petition: Darin fordern wir von den Pharmaunternehmen Pfizer und GlaxoSmithKline (GSK) eine deutliche Senkung der Preise ihrer Pneumokokken-Impfstoffe. Jahrelange Verhandlungen mit beiden Unternehmen über niedrigere Preise waren erfolglos verlaufen. Jährlich sterben eine Million Kinder an oftmals durch Pneumokokken ausgelöster Lungenentzündung, denn ärmere Länder können sich die Impfstoffe nicht leisten.