Geschichte: 2011 - 2012

In Kenia ist Ärzte ohne Grenzen im größten Flüchtlingslager der Welt, in Dadaab aktiv. 500.000 Menschen leben dort unter sehr prekären Bedingungen und finden kaum Schutz. Hier wird ein Kind in einem unserer Gesundheitsposten auf Mangelernährung untersucht.
Nenna Arnold, 2011
2012
- Ende Januar beendet Ärzte ohne Grenzen die Arbeit in Internierungslagern in der Stadt Misrata in Libyen, weil dort Gefangene gefoltert werden und ihnen medizinische Hilfe vorenthalten wird. Die Organisation hatte im Vorfeld dieser Entscheidung eindringliche Mahnungen an Behörden und Sicherheitskräfte ausgesprochen, die Folter mit sofortiger Wirkung einzustellen. Die medizinischen Teams wurden aber Zeuge, dass Insassen weiterhin entsprechenden Praktiken ausgesetzt waren. Die psychosozialen Aktivitäten in Schulen und Gesundheitseinrichtungen in Misrata wie auch die Hilfe für 3.000 afrikanische Migranten und Vertriebene in Tripolis und Umgebung werden aber weitergeführt.
- Bereits Anfang 2012 kommt es im Südsudan zu einem Höhepunkt der Gewalt, die während des gesamten Jahres immer wieder stark aufflammt. Der Bundesstaat Jonglei, der eine lange Geschichte an Kämpfen zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen aufweist, ist Epizentrum der Gewalt. Dort sind schon seit dem Jahr 2009 Tausende Zivilisten, Frauen und Kinder, gewaltsamen Angriffen ausgesetzt. 2012 führen weitere Kämpfe zwischen einer Milizengruppe und dem südsudanesischen Militär zu Vertreibungen. Dazu kommt, dass allein in der ersten Hälfte des Jahres rund 170.000 Menschen vor Kämpfen im Sudan in die südsudanesischen Staaten Upper Nile und Unity fliehen. Die dortigen Flüchtlingslager sind völlig überfüllt, es gibt nicht genügend Unterkünfte, Nahrung und Trinkwasser. Im Lager Jaman in Upper Nile liegen die Sterblichkeitsraten z.B. doppelt so hoch wie die, die eine akute Notsituation kennzeichnen. Täglich sterben dort neun Kinder.
- Im Februar veröffentlicht Ärzte ohne Grenzen einen Bericht, der darstellt, wie die syrische Regierung gezielt gegen verwundete Demonstranten und gegen Mediziner vorgeht, die die Opfer der Gewalt der gewalttätigen Auseinandersetzungen im Land behandeln. Die Hilfsorganisation hat dafür Aussagen von Ärzten in Syrien sowie von Verwundeten, die außerhalb Syriens medizinisch versorgt werden, zusammengetragen. Ärzte ohne Grenzen versucht vergeblich, von der syrischen Regierung die Erlaubnis zu erhalten, im Land zu arbeiten. So eröffnet die Organisation im Lauf des Jahres vier Kliniken im Norden des Landes in Gegenden, die von bewaffneten Oppositionsgruppen kontrolliert werden. Die Teams führen dort notärztliche und chirurgische Behandlungen an. Zusätzlich versorgen Mitarbeiter vom Bürgerkrieg Vertriebene innerhalb des Landes und syrische Flüchtlinge in Nachbarländern wie Jordanien, Irak und Libanon.
- Zur Jahrespressekonferenz in Berlin gibt die deutsche Sektion bekannt, dass sie im vergangenen Jahr so viel Geld für internationale Hilfsprojekte bereitstellen konnte wie nie zuvor. Die Projektausgaben lagen bei insgesamt 78,1 Millionen Euro. Das meiste Geld floss nach Haiti (10,5 Mio. Euro) und Somalia (8,9 Mio. Euro).
- Im Juli votiert das Europäische Parlament gegen das Anti-Piraterie-Abkommen ACTA. Ärzte ohne Grenzen begrüßt dies und warnt gleichzeitig davor, den Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten für Menschen in ärmeren Ländern durch andere internationale Verträge einzuschränken. Die Organisation fordert EU-Handelskommissar Karel de Gucht auf, sicherzustellen, dass der Handel mit Generika grundsätzlich nicht durch schädliche Regelungen zum geistigen Eigentumsrecht gefährdet wird. Generika spielen eine zentrale Rolle bei der Bekämpfung von Krankheiten in ärmeren Ländern. Ärzte ohne Grenzen behandelt beispielsweise mehr als 80 Prozent seiner über 210.000 HIV/Aids-Patienten weltweit mit Nachahmer-Medikamenten aus indischer Produktion.
- Mehrmals weist Ärzte ohne Grenzen während des Jahres auf die katastrophale humanitäre Situation im größten Flüchtlingslager der Welt, in Dadaab (Kenia) hin. 500.000 Menschen leben dort unter sehr prekären Bedingungen und finden kaum Schutz. Ärzte ohne Grenzen betont, dass dort gegen die Flüchtlingskonventionen und internationale Abkommen verstoßen wird, weil neu ankommende Flüchtlinge nicht mehr registriert werden. Krankheitsausbrüche zeigen, dass Unterkünfte und sanitäre Anlagen unzureichend sind. Seit 2011 wurde die internationale Finanzierung für das Flüchtlingslager um mehr als 40 Prozent gekürzt, während die Bevölkerung weiterhin anwuchs.
- Immer wieder thematisiert Ärzte ohne Grenzen auch die problematische Situation im Bundestaat Rakhine in Myanmar. Dort gibt es Feindseligkeiten, die durch schwere ethnische Konflikte hervorgerufen werden. Diese richten sich teilweise auch gegen Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen. Ärzte ohne Grenzen betreibt in Rakhine seit fast 20 Jahren eines seiner größten Gesundheitsprogramme weltweit. Die Patienten stammen aus allen ethnischen und religiösen Gruppen in Rakhine. Seit dem Gewaltausbruch im Juni können die Teams jedoch nur noch einen Bruchteil ihrer Kapazitäten einsetzen, da der Zugang zu den Betroffenen aufgrund von Drohungen und Einschüchterungen stark eingeschränkt ist. Zehntausende Langzeitpatienten sind monatelang ohne Behandlung.
2011
- Seit Februar hilft Ärzte ohne Grenzen den von den Kämpfen in Libyen betroffenen Menschen. Die Teams gelangen nach Bengasi und unterstützen dort medizinische Einrichtungen. In Tunesien leistet Ärzte ohne Grenzen an der Grenze zu Libyen vor allem psychologische Hilfe, da viele Flüchtlinge Zeugen von Gewalt geworden sind oder sie selbst erlebt haben. Die Teams arbeiten vorübergehend in Sintan und Misrata, organisieren zudem zwei Bootsevakuierungen von Verletzen nach Sfax in Tunesien und können im Herbst Krankenhäuser in Sirte und Tripolis unterstützen. Auch nach Ende des Krieges geht die Hilfe weiter: In Tripolis arbeitet Ärzte ohne Grenzen in Lagern, in denen insgesamt rund 4.000 Migranten afrikanischer Herkunft und Vertriebene leben. Die Teams leisten Basisgesundheitsversorgung und psychologische Hilfe.
- Unmittelbar nach dem verheerenden Erdbeben und den drauf folgenden Tsunamis am 11. März 2011 reisen Mitarbeiter des Büros von Ärzte ohne Grenzen in Tokio in die am schlimmsten betroffenen Gebiete in den Provinzen Iwate und Miyagi. Alle Mitarbeiter arbeiten eng mit der Medizinischen Katastophenhilfe Japans (DMAT) zusammen und erkunden, wo die umfangreichen Hilfsarbeiten der japanischen Regierung Unterstützung brauchen. Die Teams helfen mit mobilen Kliniken und in isolierten Gemeinden. Die Mitarbeiter kümmern sich in den Evakuierungszentren vor allem um ältere Menschen mit chronischen Krankheiten und konzentrieren sich auf die psychologische Unterstützung für die Erdbebenopfer. Schließlich leistet die Organisation Wiederaufbauhilfe für zwei Gesundheitseinrichtungen.
- Immer wieder macht Ärzte ohne Grenzen auf die äußerst problematischen Aufnahmebedingungen von Bootsflüchtlingen in europäischen Ländern aufmerksam. Im Zusammenhang mit dem Krieg in Libyen ruft die Organisation die beteiligten Staaten dazu auf, die Flüchtlinge effektiv zu schützen. In dem im Juni veröffentlichten Bericht "Vom Regen in die Traufe: Die vergessenen Opfer des Libyen-Konflikts" beleuchtet Ärzte ohne Grenzen die Folgen von mangelhaften Aufnahmebedingungen und unzureichenden Schutzmaßnahmen in Italien und Tunesien.
- Im Juli wird der Südsudan unabhängig, doch die damit verbundenen Hoffnungen auf Stabilität erfüllen sich leider in 2011 nicht. Ärzte ohne Grenzen leistet in beiden sudanesischen Ländern Hilfe – akut auch nach Kämpfen und Vertreibungen. So sind noch vor der Teilung in zwei Staaten im Mai etwa 260.000 Vertriebene dringend auf Unterstützung angewiesen. Dazu gehören auch 100.000 Menschen, die vor den schweren Kämpfen in der umstrittenen Grenzregion Abyei geflohen sind. Mitte November fliehen tausende Menschen aus dem Sudan über die Grenze in den Südsudan. Ein Team von Ärzte ohne Grenzen versorgt in dem Ort Doro Flüchtlinge aus dem Bundesstaat "Blue Nile" medizinisch. Schätzungsweise 13.000 Männer, Frauen und Kinder sind Anfang Dezember bereits dort angekommen. Im Bundesstaat Upper Nile erweitert Ärzte ohne Grenzen die Aktivitäten und stellt sie auf Nothilfebetrieb um, weil Tausenden Flüchtlingen aus dem benachbarten Sudan dorthin fliehen.
- Im Kampf gegen Aids, Malaria und Tuberkulose ist der entscheidende Schritt zum Erfolg eigentlich in greifbarer Nähe. Doch der hart erarbeitete Fortschritt bei der Bekämpfung dieser Krankheiten droht verloren zu gehen, weil sich die Geber von ihren Zusagen zur Finanzierung des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose verabschieden. Ärzte ohne Grenzen macht immer wieder darauf aufmerksam, dass dies die Leben von Millionen Betroffenen bedroht. Zum Jahresende fordert die Organisation, dass der Fonds dringend eine Notfall-Geber-Konferenz einberufen muss, damit die betroffenen Länder den Verlauf dieser tödlichen Krankheiten endlich umkehren können.
- Ärzte ohne Grenzen veröffentlicht den Report „Central African Republic: A State of Silent Crisis“, der zeigt, dass in der Zentralafrikanischen Republik (CAR) eine chronische medizinische Notlage herrscht. Die Sterblichkeitsrate in manchen Regionen ist drei Mal so hoch ist, wie die, die eine akute Notsituation und damit eine humanitäre Krise kennzeichnet. CAR hat mit 48 Jahren die zweitniedrigste Lebenserwartung der Welt und die fünfthöchste Todesrate durch Infektions- und parasitäre Erkrankungen. Ärzte ohne Grenzen unterstützt mit mehr als tausend Mitarbeitern u.a. neun Krankenhäuser und 36 Gesundheitszentren.
- Bereits im Januar 2011 macht Ärzte ohne Grenzen darauf aufmerksam, dass die zum größten Flüchtlingslager Dadaab in Kenia gehörenden Lager mit mehr als 300.000 Einwohnern völlig überfüllt sind. Der seit zwei Jahrzehnten andauernde Konflikt in Somalia setzt sich fort und die anhaltende Dürre verschlimmert die Lebenssituation der Somalier, von denen Tausende Hilfe in Flüchtlingslagern in Kenia und Äthiopien suchen. Ärzte ohne Grenzen leistet den betroffenen Menschen umfangreich Hilfe wie auch in Somalia selbst, wo die Umsetzung der Nothilfe jedoch eine große Herausforderung darstellt. Die fehlende Sicherheit in Somalia und in den Grenzregionen sowie die Behinderungen der Hilfe in einigen Teilen des Landes erschweren die Arbeit der Teams, die über große Phasen hinweg ausschließlich aus somalischen Mitarbeitern bestehen. Ärzte ohne Grenzen wird für Somalier zur wichtigsten Anlaufstelle für kostenlose medizinische Hilfe.
- 29. Dezember: Zwei Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen, Philippe Havet und Andrias Karel Keiluhu, werden während ihres Nothilfe-Einsatzes in Mogadischu erschossen. Drei Monate zuvor waren im kenianischen Flüchtlingslager in Dadaab die beiden Mitarbeiterinnen Montserrat Serra und Blanca Thiebaut entführt worden, die sich dort im Rahmen eines Nothilfe-Einsatzes um somalische Flüchtlinge kümmerten. Ärzte ohne Grenzen verurteilt diese Angriffe auf humanitäre Mitarbeiter aufs Schärfste. Sie gefährden lebensrettende medizinische Projekte, die bereits ohne derartige Zwischenfälle die medizinischen Bedürfnisse der somalischen Bevölkerung nur unzureichend abdecken können. Ärzte ohne Grenzen steht in Somalia vor dem Dilemma, dass einerseits der Bedarf an medizinischer Hilfe enorm ist, andererseits die Mitarbeiter einem extrem hohen Sicherheitsrisiko ausgesetzt sind.